Wie die Faust aufs Auge

Kurzgeschichten

von Stephan Amling

Das rosa Fahrrad

Wenn im Spätsommer die sinkende Sonne hinter den Baumkronen abtauchte und der Tag sich allmählich neigte, wurde das kleine Fenster der Küche immer öfter zu meinem erklärten Lieblingsplatz.
Es lag in der dritten Etage und von hier oben hatte man einen guten Ausblick auf die Straße, die entlang des Hauses führte.

So sah ich, wer die Straße herauf oder herab lief und das selbst noch, wenn früh abends die Laternen, unterstützt von ein paar Lichtreklamen, alles rund herum in ein schwaches Licht tauchten.
So auch ihr rosa Fahrrad, dass wie meist unten auf dem Gehweg zum Eingang stand. Das mit dem weißen Körbchen am Lenker und dem bunten Sattel.

Es gehörte Sarah, die gleich nebenan wohnte und wenn sie nach Hause kam und es ganz still war, hörte ich manchmal ihre Schritte im Treppenhaus.

Na ja und so wusste ich halt immer, ob sie da war.
Und wenn wir uns dort mal über den Weg liefen, na ja, grüßten wir uns mit einem Lächeln, doch mein Blick sank meist dabei zu Boden. Damit sie hoffentlich nicht sah, was ich tatsächlich für sie empfand.
Ja, Sarah war einfach ein tolles Mädchen und ja, ich mochte sie, vielleicht auch schon ein wenig mehr als nur das.
Doch an den folgenden Abenden war alles anders und wo zum Teufel war bloß ihr rosafarbenes Fahrrad? Dieser Zustand sorgte mich so sehr, dass ich mich entschloss, an ihre Tür zu klopfen, einfach nur, um sicher zu sein, ob es ihr auch wirklich gut geht.

Doch die Tür blieb verschlossen.

Es war an einem Samstagnachmittag, als die örtliche Polizei ihr völlig zerstörtes Fahrrad vor dem Hauseingang abstellte und verschwand. Zu spät, der Kerl am Steuer des Wagens hatte getrunken, zu spät gebremst und erwischte sie mit dem Kotflügel seines Wagens.

Dann machte er sich einfach aus dem Staub und erst später erzählten sich die Leute, dass Sarah so schwer verletzt war, so dass sie noch auf dem Wege ins Krankenhaus starb.
„Die blöde Gans! Hätte sie mal besser aufgepasst.“ Murrte noch die Nachbarsfrau unten aus der Zweiten. Ich schluckte und hatte alle Mühe, meine Emotionen unter Kontrolle zu halten.
Doch manchmal, wenn der Schmerz immer größer und einfach unerträglich war, besuchte ich sie an ihrem Grab, redete mit ihr und bildete mir ein, sie würde mich von da oben verstehen können.
Später aber dann sitze ich an meinem Fenster und stelle mir einfach vor, ich sehe Sarah mit ihrem rosa Fahrrad die Straße hoch radeln und gleich höre deutlich wieder ich ihre Schritte auf der Treppe.
Doch alles bleibt stumm!

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