Vorwort.
Peter Steins Leben als Justizbeamter ist nicht unbedingt spannend, denn sein Job besteht lediglich darin, dem Leiter der JVA Mainstadt Ärger vom Hals zu halten. Das ändert sich schlagartig, als der aufgehende Stern am Polithimmel, Oberstaatsanwalt Trommer, Peter zwingt, sich zwischen dem Gesetz und seinem Gewissen zu entscheiden.
Während sich über der JVA Mainstadt dunkle Wolken zusammenziehen, eröffnet am anderen Ende der Welt ein ehemaliger CIA-Direktor die Jagd auf Caroline Miles, eine ehemalige Mossad-Agentin.
Als sich die Wege von Peter und Caroline kreuzen, gerät Peters Leben völlig aus den Fugen, denn nicht nur er hat sich mächtige Feinde gemacht, Caroline ist ihrerseits auf einem erbitterten Rachefeldzug. Vereint im Kampf gegen gedungene Killer und Söldner kommen sich die beiden näher, doch ihre Zukunftsaussichten sind alles andere als rosig…
Einige Personen der Geschichte: | |
Caroline Miles und Peter Stein | Die Helden der Geschichte |
Vera Müller | Peter Steins Partnerin |
Beate Fischer | Eine zu Tode verurteilte Frau |
Sarah Schlosser | Eine Frau mit Vergangenheit |
Jessika Dafore | Peters rechte Hand |
Frank Brauer | Leiter der Haftanstalt |
Wolfgang Decker | Chef der Wachtruppe |
Randy Kaufmann | Ein Genie und Nerd in einem |
Gerhard Trommer | Zukünftiger Generalstaatsanwalt |
Hannes, Johann, Bernd Gratzweiler | Helfende Hände mit Verstand |
Dagan Mayr | Ehemaliger Chef des israelischen Geheimdienstes |
Levi und Lem | Majore des Geheimdienstes |
Der alte Franzose | Söldnerführer |
Dies ist eine Leseprobe.
Teil 1 – Beate
JVA in Mainstadt
Gibt es morgens nach dem Aufstehen etwas Geileres als den Geruch frischen Kaffees? Eindeutig nicht! Ich stand in meiner kleinen Küche und wartete geduldig, dass der Kaffee durchlief, während ich den angenehmen Duft genoss. Dann nahm ich die Tasse, verließ meine Wohnung… und stand im dritten Stock des Verwaltungsgebäudes der JVA Mainstadt im wunderschönen Kreis Main-Spessart. Ja, ich arbeite und wohne freiwillig in der JVA…
An dieser Stelle sollte ich mich vorstellen. Mein Name ist Peter Stein, meine Heimat ist das schöne kleine Saarland, mittlerweile bin ich knapp über vierzig und arbeite seit mehr als zwanzig Jahren als Beamter in der JVA Mainstadt.
Da ich nach der Schule noch keine Ahnung hatte, wohin die Reise gehen sollte, beschloss ich, erst einmal den Wehrdienst zu leisten, um mir Zeit zum Nachdenken zu erkaufen. Dabei klopfte die Zukunft sprichwörtlich an meine Autoscheibe. Als Stabsfahrer fuhr ich eines Abends meinen Batteriechef zu einem offiziellen Empfang des Oberbürgermeisters unserer Garnisonsstadt Mainstadt, wo ich ihn vor der Stadthalle absetzte. Ich hatte ein gutes Buch und gute Musik, also beschloss ich, im Auto zu warten.
Um den Eingang im Auge behalten zu können, suchte ich nach einem Parkplatz in Sichtweite, doch da war keiner. Genau gegenüber dem Eingang hatte man allerdings mit zwei mobilen Halteverbotsschildern eine parkfreie Zone errichtet, vor und hinter der natürlich kein freier Platz war. Doch die Schilder waren mobil… ich schaute mich kurz um, sah niemanden und stellte mich vor das erste Fahrzeug in der Reihe. Danach stieg ich aus und rückte das Schild vor meinen Wagen, anschließend machte ich es mir bequem.
Ich schlug gerade mein Buch auf, als jemand an die Scheibe der Fahrertür klopfte. „Mist!“, fluchte ich und sah durch die Scheibe. Ich atmete erleichtert auf, als ich erkannte, dass es weder ein Polizist noch jemand von der Feuerwehr war, der am Auto stand, sondern ein Mann in Zivil, der den Kopf schüttelte. Um Ärger zu vermeiden, öffnete ich die Tür und stieg aus.
„Das war kreativ gedacht, aber mies ausgeführt“, sagte der Mann, der etwa dreißig Jahre alt war. „Sie haben sich umgesehen, aber nicht darauf geachtet, ob jemand in den Autos sitzt und wir waren direkt im Wagen hinter Ihnen.“ Dabei zeigte er auf einen zweiten Mann hinter sich.
Eigentlich hatte ich schon auf der Zunge liegen: „Was soll die Klugscheißerei?“, doch irgendetwas hielt mich zurück. Der Mann schien nicht darauf aus zu sein, mir auf die Nerven zu gehen oder mir meine „Unfähigkeit“ vorhalten. Vielmehr hatte ich den Eindruck, er wolle mir ernst gemeinte Tipps geben, also schluckte ich die Erwiderung herunter. „Ich werde es mir beim nächsten Mal zu Herzen nehmen.“, antwortete ich stattdessen.
„Wird es denn ein nächstes Mal geben?“
„Hmm… wahrscheinlich schon.“
Der Mann grinste und ging in Richtung Stadthalle, als er sich plötzlich umdrehte und zurückkam. „W12er?“, fragte er mich.
„Ja“, nickte ich.
„Haben Sie einen Job, mit dem es nach dem Bund weitergeht?“
„Bis jetzt noch nicht.“
„Einen Plan?“
„Mal sehen… vielleicht verlängere ich meinen Aufenthalt bei Y-Reisen oder ich drücke wieder die Schulbank. Um ehrlich zu sein… ich habe keine Ahnung.“
„Ok, falls Sie noch eine Möglichkeit in Betracht ziehen wollen, melden Sie sich bei mir, ich suche immer kreative Köpfe.“ Damit reichte er mir eine Visitenkarte, drehte sich um und ging zur Halle. Nun sah ich auch den zweiten Mann etwas genauer, der sich bis jetzt im Hintergrund gehalten hatte. Er war ebenfalls um die Dreißig und hatte schon eine deutliche Halbglatze. Der Mann rollte mit den Augen, als er den Ersten anstieß. „Was soll das?“, fragte er ihn, „Der Typ wird uns nur Ärger machen…“ den Rest hörte ich nicht mehr, also betrachtete ich mir die Karte. „Frank Brauer“ stand da und sonst nur eine Telefonnummer, die mir sagte, dass es sich um einen Amtsanschluss handeln musste.
Keine Ahnung warum, aber diese Visitenkarte war nun für die nächsten Monate mein Lesezeichen. Nach zehn Monaten Bund kam der Zeitpunkt näher, an dem ich mich entscheiden musste, wie es weitergehen sollte. Als ich im Warteraum des Wehrdienstberaters mein Buch aufschlug, hielt ich die Visitenkarte wieder in der Hand. „Warum nicht?“, fragte ich mich und rief mir den Mann vor der Stadthalle zurück ins Gedächtnis. Irgendwie hatte er mich beeindruckt, er strahlte etwas aus, das man am besten mit Vertrauen beschreiben konnte, also beschloss ich, ihn anzurufen.
„Können Sie sich vorstellen, in einem Gefängnis zu arbeiten?“, war die zentrale Frage.
„Klar, aber werden solche Stellen nicht ausgeschrieben?“, wollte ich wissen.
„Selbstverständlich werden unsere Stellen ausgeschrieben, also bringen Sie eine Bewerbung mit. Kommen Sie morgen um 17 Uhr in die Fernstraße 34“, teilte mir Frank kurz und knapp mit und legte auf.
Ich staunte nicht schlecht, als ich an der Pforte der JVA schon erwartet wurde. Franks Begleiter vom Abend unseres ersten Treffens, der Mann mit Halbglatze, stand mit den Armen vor der Brust verschränkt da und wartete auf mich.
„Wenigstens kennst du die Uhr, mein Name ist Decker!“, brummte er und schob hinterher: „Mir nach!“ Dann drehte er sich um und ging durch die Schleuse.
„Decker, gibt’s auch einen Vornamen?“
„Nein!“
„Ok, Decker, ich bin Peter.“
„Peter und wie weiter?“
„Nichts weiter, einfach Peter.“ Decker drehte sich zu mir und warf mir einen vernichtenden Blick zu, was mich zum Grinsen brachte.
„Ganz schön große Klappe“, zischte er böse.
Nach gefühlten 1.000 verschlossenen Türen kamen wir zu Franks Vorzimmer, wo eine Mittfünfzigerin mit zwei jungen Frauen, die beide in meinem Alter waren, an einem Schreibtisch saß und ihnen eine Akte zeigte.
Als wir das Zimmer betraten, sah die Frau auf und nickte Decker zu. „Jessika, Thekla, das ist Herr Decker. Herr Decker darf als Einziger ohne Anmeldung zum Chef, sagt ihm nur Bescheid, falls bereits jemand in Herrn Brauers Büro ist.“
Die zwei nickten eifrig und mir fiel sofort Jessika auf, die einen sehr wachen und intelligenten Blick hatte.
„Heute noch?!“, fragte Decker, der schon die Tür zu Franks Büro geöffnet hatte, während er mich ungeduldig ansah.
Ich verkniff mir eine Antwort und trat ein. Frank saß an einem großen Schreibtisch, stand auf, kam mir einen Schritt entgegen und reichte mir seine Hand.
„Hallo, Peter“, begrüßte er mich freundlich. „Woher zum Teufel kennt er meinen Vornamen?“, schoss es mir durch den Kopf, denn während unseres einzigen Telefongesprächs waren wir beim Sie geblieben. „Bewerbung?“, fragte er und streckte die Hand aus.
„Ähm, ja.“ Ich übergab ihm meine Unterlagen, die er ungelesen hinter sich auf den Schreibtisch legte.
„Ich will es kurz machen“, begann er, „das hier ist ein Gefängnis. Die Arbeit hier fordert von uns allen den höchsten Einsatz. Zum Schutz all meiner Mitarbeiter brauche ich eine funktionierende Verwaltung. Damit die richtig rund läuft, brauche ich einen Kern von fähigen Leuten, die ich sozusagen als Joker überall einsetzen kann. Wie ich schon vor der Stadthalle sagte, suche ich kreative Köpfe und du scheinst einer zu sein.“
„Na ja“, antwortete ich wahrheitsgemäß, „ich gebe mir zumindest Mühe, nicht vorgefertigte Denkmuster von anderen zu übernehmen und meinen eigenen Weg zu gehen.“
Frank setzte ein Grinsen auf und meinte: „Ok, Ende September ist der Bund vorbei, am ersten Oktober erscheinst du hier und fängst bei uns an. Um die Bewerbung kümmere ich mich.“
„Ja… und was wäre meine Aufgabe?“, wollte ich wissen und Decker stieß ein Grunzen aus, während Frank milde lächelte.
„Deine Aufgabe ist die von allen Neuen… du beginnst eine Ausbildung, danach sehen wir weiter.“
***
So ging es dann auch weiter. Pünktlich zur angegebenen Zeit erschien ich am ersten Tag nach der Bundeswehr in der JVA Mainstadt und trat meine Ausbildung an. Sollte ich gedacht haben, dass ich durch Franks „Empfehlung“ einen Bonus bekam, wurde ich schnell eines Besseren belehrt. Nach ein paar Wochen rauchte mein Kopf von all den Inputs, die Franks Beamte und die Lehrer der Verwaltungsschule in meinen Kopf eintrichterten. Der einzige Lichtblick war Jessika, die gemeinsam mit Thekla ebenfalls die Ausbildung durchlief. Doch nach einem halben Jahr begann ich zu zweifeln, ob dieser Job der richtige war.
Darüber brütete ich in einem kleinen Büro der JVA nach, als Jessika dazu kam. Sie hielt zwei Tassen Kaffee in der einen Hand und mit der anderen Hand schloss sie die Tür hinter sich ab. Wortlos setzte sie sich mir gegenüber und schob mir eine Tasse herüber.
„Du siehst aus, als ob du ein Problem hast“, sagte sie, was eigentlich mehr eine Feststellung als eine Frage war.
Ich lehnte mich zurück und rieb mir die Augen. „Ja“, stöhnte ich, „ich weiß nicht… irgendwie habe ich mir den Job anders vorgestellt… das ist alles sehr… trocken, wenn du verstehst, was ich meine.“
„Trocken?“, lachte sie auf. „Du hättest also gerne etwas mehr Action?“
„Na ja, so könnte man es nennen.“
„Und du überlegst hinzuwerfen?“
„Nein… ja… ich weiß es nicht!“
Jessika schien zu überlegen, wie sie mir etwas scheinbar Klares und Unübersehbares mitteilen sollte und meinte, nach einiger Zeit: „Also, wenn du Action willst, dann klemm‘ deine Arschbacken zusammen und sieh zu, dass du einen guten Abschluss bekommst, dann wirst du deine Action sicher bekommen.“
Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah ich sie fragend an und Jessika begann, geheimnisvoll zu grinsen. „Du musst lernen zuzuhören“, meinte sie, „wusstet du, dass Brauer hier erst vor eineinhalb Jahren das Kommando übernommen hat?“
„Nein“, gab ich zu.
„Und findest du nicht auch, dass jemand der Anfang dreißig ist, etwas jung für so einen Posten ist?“
„Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.“
„Marlies, Brauers Sekretärin, sagte neulich, dass Frank plötzlich eines Tages dastand und der damalige Direktor ihm die Leitung übergab. Kein Mensch weiß, wo Frank herkam, oder was er früher gemacht hat oder welchen Posten er vorher hatte. Passenderweise war die Stellenbeschreibung so ausgeschrieben, dass nur Brauer die Stelle bekommen konnte. Was sagt dir das?“
„Dass Brauer die richtigen Leute kennt?“
„Genau, und diese Leute haben Brauer ganz sicher nicht umsonst hierhergesetzt und ihm auch noch Wolfgang mitgegeben.“
„Wer ist Wolfgang?“
„Decker!“, schüttelte sie den Kopf.
„Decker hat also doch einen Vornamen?“
„Du bist unmöglich“, tadelte sie mich. „Was immer Frank auch vorhat, er ist gerade dabei, sich einen Kern von Vertrauensleuten zu bilden und du stehst ganz oben auf der Liste. Du musst Frank nur zeigen, dass du lernfähig bist, also beweise es ihm in den nächsten eineinhalb Jahren.“ Damit zeigte sie auf die Unterlagen, die überall herumlagen.
So hatte ich das noch gar nicht gesehen und die Infos über Brauer waren sehr interessant. „Weißt du, bei dem einen oder anderen Thema könnte ich etwas Hilfe gebrauchen.“
„Das glaube ich gerne“, entgegnete sie mit einem verschmitzten Lächeln. „Heute Abend gehen wir beide Essen, dann machen wir eine Bestandsaufnahme und wir schauen, wo du meine Hilfe brauchst.“
***
Jessika hielt Wort und half mir dort, wo es nötig war, doch schon bei der ersten „Nachhilfestunde“ wurde mir etwas bewusst… Hände weg von Jessika! Jessika war einer der besten Menschen, die ich bisher kennengelernt hatte, und sie zu auch nur ansatzweise zu enttäuschen oder zu verletzen, war das Letzte, was ich wollte. So gab es nach ein paar Wochen eine unausgesprochene Übereinkunft. Wir waren beste Freunde, teilten alles miteinander und am Ende des Tages ging jeder in sein eigenes Bett.
Fand einer von uns zwei einen Partner, freute sich der andere und er tröstete ihn, wenn die Partnerschaft in die Brüche ging…
Mit Jessikas Hilfe (und dem neuen Blickwinkel auf Brauer) schaffte ich die Ausbildung zwar nicht mit Bestnote, lag aber noch im oberen Drittel.
Schließlich kam der Tag, an dem Jessika, Thekla und ich in Franks Büro standen, der uns unsere Urkunden überreichte. Als Frank Jessika zu einem Abschluss mit der Note 1,0 gratulierte, konnte ich das Augenzwinkern nicht sehen, mit dem er sie bedachte. Ich hörte, dass er sagte: „Das war sehr gute Arbeit!“, und hatte keine Ahnung, dass sich dies auf mich bezog. Ja, ich hatte noch viel zu lernen…
Aber ich lernte und Frank beschloss, dass Jessika und ich ein tolles Team seien, das er überall dort einsetzen konnte, wo es brannte. Zunächst übernahmen wir Abteilungen, die durch Krankheiten, Elternzeiten oder andere Ausfälle überlastet waren, oder wir arbeiteten neue Mitarbeiter ein… wir ackerten solange, bis wir den Verwaltungsablauf im Schlaf kannten, dann kam Stufe zwei.
„Ihr drei werdet ein duales Studium beginnen!“, teilte uns Frank in einer knappen Ansprache mit.
„Ähm, habe ich da etwas mitzureden?“, wollte ich wissen.
„Habe ich dich bisher nach deiner Meinung gefragt?“, kam die Gegenfrage.
„Nein.“
„Warum soll ich es dann jetzt tun?“
„Dual heißt zwar, dass wir hier weiterarbeiten und unsere Kohle bekommen, dennoch kostet Studieren eine Stange Geld und bei mir geht schon ein großer Teil vom Gehalt für die Miete drauf.“
„Da hat er nicht ganz Unrecht“, stellte sich Thekla auf meine Seite.
„Was ist mit dir, Jessika?“
„Ich habe eine eigene Wohnung im meinem Elternhaus, solange das Gehalt weiter fließt, habe ich keine Probleme.“
Für einige Sekunden schien Frank durch uns hindurch zu sehen, dann setzte er sein typisches Pokerface auf. „Dann zieht ihr zwei eben in eine günstigere Wohnung um.“
„Du hast gut reden“, entgegnete ich, „wir sind hier in Mainstadt, wo soll ich da eine billige Wohnung hernehmen?!“
„Zwei Zimmer, Küche, Bad, 55 Quadratmeter, für 250 Ocken Warmmiete.“
„Das wäre ein Angebot, das einfach zu schön wäre, um wahr zu sein. Ich würde mich sofort fragen, wo der Haken ist!“, hielt ich ihm entgegen.
„Der Haken sind Gitter an den Fenstern.“
„Das ist ein Witz! Du willst uns Zellen andrehen?“
„Natürlich nicht“, schüttelte Frank den Kopf. „Oben im dritten Stock des Verwaltungsgebäudes wird gerade die halbe Etage leer. Die alten Lager und Archivräume kommen weg. Zellen kann ich im Verwaltungsgebäude nicht einrichten lassen und leer stehen sollen die Räume auch nicht. Ich lasse ein paar Schreiner und Klempner kommen und schon hat jeder von euch eine schöne und vor allem günstige Wohnung.“
Thekla und ich sahen uns zweifelnd an, bis wir Jessika im Hintergrund nicken sahen, also meinte ich: „Na ja, dann kann ich in Pantoffeln zur Arbeit gehen… das hat was. Ok, ich nehme das Angebot an.“
Nun sah Frank zu Thekla, die noch mit sich kämpfte und sich dann doch einen Ruck gab. „Also gut, ich nehme auch an“, entschied sie schließlich. „Aber nur, bis das Studium vorbei ist!“
***
Der Job
Das Studium ging vorbei und anders als Thekla, die kurz nach der Universität Marlies Posten übernahm und Franks neue Vorzimmereminenz wurde, heiratete und mit ihrem Mann ein eigenes Haus baute, lebe ich noch immer im dritten Stock der JVA.
Allerdings veränderte sich nach der Uni auch meine Tätigkeit. Zwar bildeten Jessika und ich noch immer ein Team, doch jetzt bestand unser Job darin, Frank den Rücken freizuhalten. Anwälte, die auf Krawall gebürstet waren, Ministeriumsmitarbeiter, die meinten, sich profilieren zu müssen, neue Ideen von Ministern, Öffentlichkeitsarbeit…
Wir waren der Schild für Franks Belegschaft. Egal, ob Sicherheitsbeamter, Verwaltungsangestellte oder Reinigungskraft, gab es Ärger, hatten wir ihn aus der Welt zu schaffen. Wir waren gut, was daran lag, dass Frank wohl der beliebteste Chef überhaupt war (und noch immer ist). Im Gegenzug hielt Frank seine schützende Hand über uns, ganz gleich, wer uns ans Leder wollte. Jetzt hatte ich meine Action und ich genoss das Leben so, wie es war.
Allerdings, so gut wir unseren Job auch machten, Decker blieb die einzige Person, die ohne Anmeldung und ohne anzuklopfen in Franks Büro marschieren konnte. So meldete ich mich brav bei Thekla an, als ich mit meiner Kaffeetasse zum täglichen Meeting bei Frank erschien.
„Guten Morgen, Thekla“, begrüßte ich sie und zeigte auf die Tür zu Franks Büros, „darf ich?“
„Er telefoniert gerade mit dem Ministerium, du kannst trotzdem reingehen.“
„Danke, übrigens, tolle neue Frisur.“
„Oh“, lächelte sie, „vielen Dank. Nicht einmal meinem Mann ist die neue Frisur aufgefallen.“
„Tja, Männer!“ Mit einem Augenzwinkern, das ich Thekla zuwarf, betrat ich Franks Heiligtum, der mir hinter seinem Schreibtisch sitzend zuwinkte, und mich aufforderte, Platz zu nehmen, während er am Telefon weiterredete.
„Herr Staatssekretär, Sie werden sich bestimmt daran erinnern, dass wir Sie vor einer solchen Aktion gewarnt haben“, sagte er gerade mit einem Blick, der selbst durch das Telefon tödlich sein musste, während ich geduldig wartete, bis Frank das Gespräch beendete.
„Ich verstehe, Herr Staatssekretär. Ja. Auf Wiederhören.“
Frank legte den Hörer auf und sah mich vielsagend an.
„Du kannst dich bewerben, im Ministerium wird eine Dezernatsstelle frei.“
„Das heißt wohl, die Internetgeschichte ist tot?“
„Tot? Tot ist gar kein Ausdruck. Das grenzt schon an Leichenschändung. Und natürlich will es keiner gewesen sein, im Gegenteil, alle waren von Anfang an strikt dagegen.“
Die tote Internetgeschichte bezog sich auf den Vorschlag des Ministeriums, ähnlich wie in den USA ein öffentliches Strafregister zu erstellen, so dass man auf einer vom Ministerium bereitgestellten Landkarte bzw. einem Stadtplan sehen konnte, ob ein registrierter Straftäter in der Nachbarschaft lebte. Man hätte auch sehen können, welche Straftat der Nachbar begangen hatte.
Um festzustellen, dass eine solche Aktion in Zeiten der DSGVO schiefgehen musste, hätte man kein sündhaft teures Gutachten einholen müssen. Abgesehen davon, dass der Nutzen eines solchen öffentlichen Prangers – nichts anderes stellte ein solches Register dar – zweifelhaft war, hielt ich dessen Einführung für einen Fehler. Denn die Erfahrung lehrte uns, dass es in jeder Abteilung Vollpfosten gab, die Fehler machten und die falschen Leute in ein solches Register aufnahmen. Außerdem konnte ein guter Hacker praktisch jeden als Straftäter brandmarken und schon war man Ruf, Job und Freunde los, denn es würde immer heißen: „Irgendwas wird schon dran sein.“
Jetzt lag das Kind im Brunnen und man fragte sich, warum man für eine solche Sache über eine Million an Steuergeldern in den Sand gesetzt hatte.
„Es ist ja nicht so, dass wir diese Idioten nicht vorgewarnt hätten“, meinte ich zu Frank. So war es, denn auf der entscheidenden Konferenz hatten Frank und ich den Vorschlag des Ministeriums von Anfang an als Schnapsidee abgetan. Auch hatten wir wiederholt, dass man das Geld sehr viel besser investieren könnte, beispielsweise in neue Stellen. Nun, nach nur sechs Monaten, war das Internetprojekt gestorben, in das sündhaft viel Geld gesteckt wurde. Zum Glück hatten Frank und ich unsere Einsprüche gegen das Projekt schriftlich festgehalten, denn als jetzt ein Sündenbock gesucht wurde, blieben wir beide außen vor.
„Das Ministerium erwägt zukünftig, öffentliche Bekanntmachungen zu Straftätern einzuschränken, was immer das bedeuten mag. Warten wir mal ab, aber die Befürworter haben prominente Unterstützung.“
„Ja, wen denn?“
„Oberstaatsanwalt Trommer.“
„Trommer?“, fragte ich nach. „Hm, den kenne ich so gar nicht. Ich dachte immer, der steht mit beiden Beinen in der Realität.“
„Da steht er noch immer, der Großteil der Bevölkerung macht sich über so etwas wie ein Register keine Gedanken. Aber ein kleiner Teil schreit ganz laut nach einem solchen Pranger und derjenige, der am lautesten schreit, wird am ehesten gehört. Trommer will die Aufmerksamkeit nutzen, die die Debatte um das Register mit sich führt.“
„Nutzen?“
„Trommer will nach oben. Und jetzt rate mal wohin.“
„Generalstaatsanwalt?“
„Du hast es erfasst.“
Wow, das war starker Tobak. Der jetzige Generalstaatsanwalt würde in einem halben Jahr in Ruhestand gehen, doch die Stelle des Generals war eine politische Entscheidung. Bewerber gab es in den Parteien jede Menge und einige der Kandidaten hatten weit mehr Dienstjahre und mehr Freude in der Chefetage als Trommer. Wie zum Teufel wollte er an denen vorbeikommen? Da fiel mir nur ein Weg ein. Trommer musste die Öffentlichkeit für sich gewinnen.
„Na ja, wie du sagst, wir sollten abwarten.“
Das Telefon läutete und Frank schaute auf das Display. „Jessika“, teilte er mir mit und nahm ab. „Ja, er ist da“, antwortete er ihr und sah mich an. „Ich soll dich an den Gerichtstermin erinnern.“
„Der ist erst nächste Woche“, entgegnete ich.
Frank lauschte wieder und grinste, als er den Hörer auflegte. „Jessika sagt, heute ist die nächste Woche.“
Ich stöhnte auf… Verdammt, den Gerichtstermin hatte ich ganz vergessen, bei dem ich als Zeuge in einem Prozess gegen eine unserer Beamtinnen geladen war. „Mist, die Schiller-Sache. Ja, ich werde daran denken.“
„Tanja Schiller?“
„Ja.“
„Was lief da schief?“
„Tja, was lief schief…?“
Tanja Schiller arbeitete seit acht Jahren in Deckers Team der Wachbeamten, bis sie ihren Mann kennenlernte. Der saß bei uns wegen verschiedener Delikte ein und Tanja verliebte sich in ihn. Da bekannt war, dass man mit Frank über jedes Problem reden konnte, nahm sie das Angebot an und „beichtete“ Frank ihre Liebe zu einem Gefangenen. Frank wäre nicht Frank, hätte er nicht eine Lösung gefunden, also wurde Tanja in die Freigänger-Einrichtung versetzt, wo sie keinen direkten Kontakt zu dem Gefangenen hatte. Dort verblieb sie, bis dieser seine Strafe abgesessen hatte. Nach seiner Entlassung zogen die zwei zusammen, heirateten und Tanja kehrte zurück. Doch schon kurze Zeit später sah man den ein oder anderen deutlichen blauen Fleck an ihren Armen oder im Gesicht.
Frank brauchte mich erst gar nicht auffordern, mich der Sache anzunehmen, doch ich kam nicht an Tanja heran. Auch Jessikas Versuche schlugen fehl und Tanja lehnte alle Hilfsangebote dankend ab, auch als die blauen Flecken mehr und größer wurden. Sicher, wir hätten eine Anzeige erstatten können und Frank hätte die Mittel dafür zu sorgen, dass eine Einstellung des Verfahrens nicht in Frage kam, doch was dann? Wenn Tanja keine Aussage gegen ihren Mann machen würde, käme nichts dabei heraus und Tanja hatte klar gemacht, dass es keine Aussage geben würde! Ich spielte schon mit dem Gedanken Tanjas Mann im Dunkeln abzupassen, um ihm zu erklären, was es heißt, Respekt gegenüber seiner Ehefrau zu haben, als dieser plötzlich sehr krank wurde. Je schlechter es dem Mistkerl ging, umso mehr nahmen die blauen Flecken ab. Schließlich, nach drei Monaten schwerer Krankheit, verstarb Tanjas Mann und die Bombe platzte, als Tanja verhaftet wurde. Der Gerichtsmediziner hatte eine tödliche Dosis eines sehr üblen Giftes festgestellt und die Ermittler brauchten nicht lange, um Tanja als Schuldige auszumachen…
Was lief schief…? Darüber hatten Jessika und ich uns auch unsere Köpfe zerbrochen und die Antwort war tragisch einfach. Tanja hatte die Hilfe, die wir und alle anderen ihr anboten, nicht angenommen… und das Drama nahm seinen Lauf.
„Unangenehme Sache“, meinte Frank leise, denn auch er hatte sich mehr als einmal gefragt, was er hätte tun können, um die Tragödie zu vermeiden.
„Ja, zumal ich sie ausgebildet habe.“
„Beim Ausstellen deiner Aussagegenehmigung habe ich deinen Vorabbericht gelesen, du versuchst, sie herauszuhauen.“
„Natürlich will ich das, sie ist schließlich eine von uns.“
„Ich hoffe, du hast Erfolg. Und jetzt solltest du dich auf die Socken machen, nicht dass das Gericht auf seinen wichtigsten Zeugen warten muss.“
Ich lachte und erhob mich. Als ich kurz vor der Tür stand, sagte Frank. „Was deine Aussage angeht… Ich verlasse mich darauf, dass bei dir alles nach Vorschrift läuft.“
Frank wusste genau, dass ich das tat, was ich für richtig hielt, und er wusste auch, dass ich es weiterhin tun würde, also schaute ihn an und entgegnete selbstsicher: „Keine Sorge, ich habe alles im Griff.“
Hätte ich in diesem Moment gewusst, was die nächsten Tage und Wochen geschehen würde, hätte ich mir diesen Kommentar ganz sicher verkniffen.
***
Schicksal
Eine Stunde später saß ich wartend vor dem Gerichtssaal. Im Saal selbst lief die Verhandlung immer mehr auf die Frage hinaus, ob Tanja ihren Mann eiskalt ermordet hatte oder ob es eine Verzweiflungstat war. Die Verteidigung legte sich mächtig ins Zeug, doch sie hatte das Problem, dass es keine „Zeugen“ gab, die Tanja hätten helfen können. Tanja hatte leider immer behauptet, die blauen Flecken kämen von Unfällen. Dafür hatte die Staatsanwaltschaft gleich Dutzende Zeugen, die aussagten, dass der Verstorbene an einer tödlichen Dosis Gift langsam und qualvoll verstorben war. Es war klar, dass es nötig gewesen war, ihm über einen langen Zeitraum täglich eine Dosis zu verabreichen, was also eine spontane Tat ausschloss.
Tanja saß auf der Anklagebank und schwieg, denn ihre Verteidiger hatten ihr anscheinend strengstens davon abgeraten, eine Aussage zu machen.
Ich konnte mich genau an diese junge Auszubildende erinnern. Selbstbewusst und lebensfroh… Sie hatte den Beruf der Justizbeamtin gewählt, weil sie etwas völlig anderes tun wollte als das, was man vor ihr erwartete. Mit Stolz machte sie ihren Abschluss und bekam schon kurz darauf die Leitung einer kleinen Abteilung. Jetzt saß sie als gebrochene Frau vor dem Gericht.
Während ich darüber nachdachte, stellte ich mir die Frage, ob ich, wenn ich tatsächlich Tanjas Mann im Dunkeln abgepasst hätte, diesen tatsächlich nur mit Worten davon hätte überzeugen wollen, seine Frau nicht mehr zu misshandeln. Was wäre geschehen, wenn er „Leck mich“ gesagt hätte? Wäre es dann auch noch bei einem verbalen Schlagabtausch geblieben? Wahrscheinlich nicht, musste ich mir eingestehen und die Wahrscheinlichkeit, dass ich ihm ein paar Knochen gebrochen hätte, wäre sehr hoch gewesen. Dann wäre es gut möglich gewesen, dass ich heute hier als Angeklagter sitzen würde, denn auch ich hatte nicht das Recht, mir meine eigenen Regeln zu machen.
Über all das dachte ich nach, während sich dunkle Gewitterwolken über Tanjas Kopf zusammenbrauten.
Schließlich kam ich mit meiner Aussage an die Reihe.
„Kommen wir nun zum Zeugen Stein“, verkündete der Richter und sah mich an.
„Herr Stein, Ihren vollen Namen bitte.“
Da ich oft als Zeuge bzw. als Sachverständiger vor Gericht aussagen musste, kannte ich die Angaben, die ich machen musste, und leierte sie herunter.
„Peter Stein, 41 Jahre, Beruf Justizbeamter, ladungsfähige Anschrift ist die hiesige Justizvollzugsanstalt, weder verwandt noch verschwägert mit der Angeklagten.“
„Herr Stein, Ihre Aussage!“
Nun berichtete ich über die Zeit, als mir die ersten blauen Flecken auffielen.
„Was sagte Frau Schiller, woher diese stammen?“
„Frau Schiller antwortete jedes Mal, dass sie sich gestoßen oder einen anderen Unfall gehabt hätte.“
„Haben Sie in Betracht gezogen, dass es die Wahrheit sein könnte?“
„Nicht eine Sekunde!“
„Erklären Sie das!“
„Bei meiner Arbeit werde ich oft mit Gewalt konfrontiert und die Verletzungen bzw. die Folgen von Gewalt sind immer dieselben.“
„Über welchen Zeitraum haben Sie diese Verletzungen festgestellt?“
„Eine Woche nach Frau Schillers Rückkehr in die Hauptstelle der JVA bis kurz vor dem Tod des Mannes, also viereinhalb Jahre lang.“
„Und Sie haben nichts unternommen?“
„Selbstverständlich haben wir Frau Schiller Hilfe angeboten, aber leider hat Frau Schiller diese Hilfe nicht angenommen.“ Jetzt war es Zeit, den ersten Einwurf zu machen. „Ich vermute, aus Angst vor ihrem Mann.“
„Wie kommen Sie zu dieser Annahme?“
„Nun, ich bin kein ausgebildeter Psychologe, dennoch ist Psychologie ein wichtiges Arbeitsfeld für uns in der JVA und unser Direktor, Herr Brauer, besteht auf regelmäßigen Schulungen. Deshalb bin ich der Meinung, dass ich die Anzeichen richtig deuten konnte. Frau Schiller hatte mit Sicherheit Angst vor ihrem Mann, der ja auch unter anderen wegen Gewaltdelikten bei uns zu Gast war.“
Damit gab sich der Vorsitzende erst einmal zufrieden und er sah nach links. „Herr Staatsanwalt, Fragen?“
„Ja. Laut der Akte haben Sie selbst die Angeklagte ausgebildet?“
„Das ist korrekt, wobei die Ausbildung nicht allein von mir durchgeführt wurde, ich überwachte die Ausbildung lediglich.“
An diesem Punkt übernahm der Richter wieder. Da er etwas unentschlossen schien, entschied ich mich, noch ein paar Zweifel zu streuen.
„Welche Verletzungen haben Sie denn konkret feststellen können?“
„Typische Verfärbungen am Oberarm, ich bin mir absolut sicher, dass diese von einem brutalen Festhaltegriff stammten. Dazu kommen Hämatome, die genau die Größe einer Faust hatten.“
„Herr Stein, Frau Schiller hat ja des Öfteren beteuert, dass diese Verletzungen von Unfällen stammen. Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit, dass es hier um einen Unfälle handeln könnte?“
Ich atmete tief durch, denn jetzt kam es darauf an, bei der Wahrheit zu bleiben und das „Richtige“ zu sagen. „Ein Unfall, möglich… zwei Unfälle, vielleicht… Vier Jahre lang solche Unfälle, ausgeschlossen.“
Bevor ihr Verteidiger sie daran hindern konnte, sprang Tanja auf und schrie: „Ja! Es waren kein Unfälle! Dieser elende Scheißkerl hat mich über vier Jahre geschlagen und misshandelt! Ich habe dieses miese Stück Dreck mit voller Absicht umgebracht! Und ich habe es genossen, ihn leiden zu sehen, und ich hoffe, dass er in der tiefsten Hölle schmort!“ Dabei liefen ihr die Tränen über das Gesicht.
Eine gute Minute lang war es totenstill im Gerichtssaal und niemand sagte auch nur ein Wort. Alle starrten Tanja an, während ich innerlich traurig den Kopf schüttelte. Verdammt! Ich hatte die Richter fast soweit gehabt… der Rest der Verhandlung war jetzt nur noch reine Formsache. Nachdem man Tanja nach den Plädoyers das letzte Wort gelassen hatte, zog sich das Gericht zur Beratung zurück.
Ich wusste, wie das Urteil lauten würde, beschloss aber, mir das nicht anzutun, und machte ich mich auf dem Rückweg, doch weit kam ich nicht. Als ich aus dem Saal ging, um zum Ausgang zu kommen, geriet ich in ein großes Gedränge. Ich kämpfte mich durch die Leute und hatte fast das Ende erreicht, als ich auf Mike traf, einen Mitarbeiter unserer Presseabteilung.
Zugegeben, wir beide hatten einen holprigen Start, doch nach anfänglichen Schwierigkeiten, Mike musste lernen mit meinem schwarzen Humor umzugehen, wurden wir doch Freunde. „Hallo Mike, was zum Teufel ist denn hier los?“
„Was? Bad-Man, weißt du denn gar nicht, was in der Welt geschieht? Heute ist der Fischer-Prozess.“
„Wer ist Fischer?“
„Der Messermord vor sechs Monaten, die Zeitungen waren voll davon.“
Angestrengt überlegte ich und langsam kam mir die Sache wieder ins Gedächtnis. Ich hatte gerade eine Woche Urlaub gehabt, als es geschah. Eine Frau hatte ihren Mann mit dem Messer umgebracht. Der einzige Grund, warum ich mich daran erinnerte, war der, dass es in unserer Stadt geschehen war.
„Da kommt die Fischer.“ Mike zeigte auf eine Frau, die von zwei Beamten durch die Menge geführt wurde.
Wow, was für eine Frau! Beate Fischer war 1,70 Meter groß, hatte eine perfekte Sanduhrenfigur, lange feuerrote Haare, ein freundliches, feminines Gesicht, das mit Sommersprossen geschmückt war, und herrliche smaragdgrüne Augen.
Sie trug einen schwarzen knielangen Rock mit hellen Nadelstreifen und den passenden Blazer, darunter eine weiße Bluse und ein paar schwarze Nylons und schwarze Pumps. Hätte sie nicht Hand und Fußschellen getragen, hätte niemand in ihr eine Mörderin gesehen. Als ich sie jetzt sah, fielen mir auch einige Artikel aus den Zeitungen wieder ein, denn die Presse hatte sich keine Gelegenheit entgehen lassen, diese schöne Frau auf ihren Seiten zu bringen.
Soweit ich mich erinnerte, war es eine Familientragödie gewesen. Fischer hatte ihren Mann mit übrig vierzig Messerstichen umgebracht, dennoch schaffte es ihr Verteidiger, mit Hilfe von Psychologen eine Anklage zu erreichen, die „nur“ auf Totschlag lautete.
Dennoch! Vierzig Messerstiche!
Die meisten Morde werden im Affekt begangen, wenn man nicht wie Tanja seinen gewalttätigen Ehemann mit einer Menge Gift um die Ecke bringt. Ein Schuss, ein Schlag mit einem schweren Gegenstand, auch mal ein, vielleicht auch zwei Messerstiche. Aber vierzig! Vierzig Mal mit einem Messer auf jemanden einzustechen, dauert seine Zeit. Zeit, um zum Nachdenken und zur Besinnung zu kommen. Vierzig Mal zuzustechen bedeutet, dass sich ein unglaublicher Hass entladen haben muss.
Unterdessen hatten sich die Leute sich um die Angeklagte gescharrt und die Wachtmeister hatten alle Hände voll zu tun, um Fischer durch die Menge in den Saal zu bringen.
„Sie wird unsere Lebenslänglichabteilung um einiges verschönern.“
„Nein, wird sie nicht. Sie ist nur wegen Totschlag angeklagt, dafür bekommt sie höchstens 10 Jahre.“
Mike lachte leise auf, während er mich von der Seite her spöttisch ansah.
„Weißt du etwa mehr als das Gericht?“
„Siehst du die blonde Schönheit dort hinten?“ Er zeigte auf eine Frau, die abseits des Pulks stand.
„Ist kaum zu übersehen.“
„Das ist Petra Strass, sie war die Geliebte des Opfers“, erklärte er mir, also sah ich mir die Frau etwas genauer an. Petra Strass war ein Traum in Blond, hochgewachsen, schmal, lockige Haare bis unter die Schulterblätter und ein Dekolleté, das fast nichts der Fantasie überließ. Sie trug ein schwarzes Designerkleid mit schwarzen hochhackigen Schuhen, die Beine steckten in schwarzen Seidenstrümpfen. Der dezente Schmuck, den die Strass trug, kostete wahrscheinlich so viel wie ein Kleinwagen. Ihre arroganten und kalten blauen Augen musterten die Leute um sie herum sehr abwertend. Diese Frau war der klassische Vamp.
Die Wachtmeister hatten es geschafft, einen Durchgang zum Saal freizumachen, und Mikes Kollegen der Presse wanden sich nun der Strass zu.
„Jetzt pass mal auf!“, flüsterte Mike.
Von einer Sekunde auf die andere wurden die kalten, arroganten Augen tieftraurig und füllten sich mit Tränen. Die Schulter fiel nach unten, der Blick wanderte zu Boden und alles an dieser Frau schrie: „Ich bin ein Opfer.“
„Eine beeindruckende Leistung, findest du nicht auch?“, fragte Mike.
„Ja, sehr beeindruckend. Dennoch, Totschlag ist Totschlag.“
„Die Anklage kann jederzeit erweitert werden, das weißt du genau. Und da kommt die Anklage!“, antwortete Mike und zeigte zur Treppe.
Ich blickte zur Treppe und da kam der Staatsanwalt mit seinem Gefolge. Es war Oberstaatsanwalt Trommer! Spontan fiel mir die Unterhaltung mit Frank ein, die wir vor wenigen Stunden geführt hatten. Trommer war das, was man einen „harten Hund“ nennt. Konsequent, knallhart, aber auch Realist. Er wusste, welche Strafe er wann fordern und wie er sie bekommen konnte.
„Warte noch einen kleinen Moment.“
Die Menge teilte sich, um die Prozession der Staatsanwaltschaft vorbei zu lassen, und als Trommer an Petra Strass vorbeikam, fand zwischen den beiden für einen Sekundenbruchteil ein intensiver Blickkontakt statt, dann war Trommer im Saal verschwunden.
Beate Fischer wurde jetzt ebenfalls in den Saal geführt, doch da sie in ihren Fesseln nur kleine Schritte machen konnte, dauerte das etwas länger. Während die Menge in den Saal strömte, blieb Petra Strass stehen und schaute ihr entgegen. Als Beate Fischer an ihr vorbeikam, blickten sich die zwei Frauen an und in beiden Gesichtern lag der pure Hass. Ich glaube, der Hass den Frauen gegeneinander hegen können, ist der Größte, den es auf der Welt gibt.
„Ich wette mit dir um eine Flasche teuren Single Malt, dass Trommer lebenslang fordert, und um eine weitere, dass er es bekommt.“
„Ok, die Wette gilt, sag mir, wie es ausgegangen ist“, nickte ich und strebte dem Ausgang entgegen, während Mike sich den Zuschauern anschloss.
***
Ohne es zu wissen, hatte ich gerade eine Begegnung mit dem Schicksal. Ich hatte keine Ahnung, dass dieser Tag mein Leben und das Leben all meiner Freunde für immer auf den Kopf stellen sollte. Niemals hätte ich mir vorstellen können, dass ich in naher Zukunft Dinge tun würde, die ich jetzt noch als völlig absurd und unmöglich betrachtete. Ich ahnte auch nichts von dem Drama, das sich gerade in der fernen Südsee auf einer Insel namens Soulebda anbahnte, und das jene einzigartige Frau zu mir führen würde, die ich mehr lieben sollte, als ich es mir je vorstellen konnte.
***
Caroline – Wie alles begann.
Caroline Miles – so lautet der Name in meinem Ausweis. Ich bin sicherlich kein schlechter Mensch, dennoch bringe ich Menschen um, weil es mein Job ist, denn ich bin eine staatlich bestellte Henkerin.
Meine Heimat ist Israel. Dort wurde ich schon als Kind durch die Gewalt des Alltags geprägt. Gewalt, die mir meine Eltern und Geschwister vor meinen Augen nahm, und mich nur das beherzte Vorgehen eines Mannes wieder zurück in die richtigen Bahnen lenkte.
Dieser Mann wurde zu meinem Mentor und Ersatzonkel. Er selbst legte keinen Wert darauf, dass ich ihn bei seinem richtigen Namen rief, und so nannte ich ihn einfach nur mein „Onkelchen“. Seinen Namen, Dagan Meir, bekam ich erst später zu hören.
Dass dieser Mann eine lebende Legende im Geheimdienst war, wusste ich damals noch nicht. Mit ihm hatte ich seinerzeit, als junges Mädchen von gerade 11 Jahren, einen Förderer gefunden und er kümmerte sich in Israel um mich, nachdem ich meine Eltern verloren hatte. Mein Onkelchen sorgte dafür, dass ich die richtigen Schulen besuchte, bemühte sich um meine Ausbildung und kümmerte sich fürsorglich um mich.
Er nannte mich immer Mischka, das heißt Kleiner Bär. Das lag einerseits an meinem damaligen burschikosen Auftreten und andererseits an meiner Art, bei Gefahren nicht zurückzuweichen, sondern der Gefahr beherzt entgegenzutreten. Mein Onkelchen sah in mir etwas Besonderes und sorgte dafür, dass ich die besten Internate besuchen und recht früh beim Militär Fuß fassen konnte. Da Onkelchen dem Geheimdienst vorstand, konnte ich diverse Spezialeinheiten besuchen und viele Kurse in Selbstverteidigung belegen.
So wuchs ich beim Militär auf. Mit gerade einmal 22 Jahren hatte ich bereits eine gut gefüllte Militärakte und reichlich Einsatz-Abzeichen auf meiner Uniform. Meinem Onkelchen war es allerdings auch immer wichtig, dass ich auf dem Boden der Tatsachen blieb und nicht verrückt wurde. Er verstand es immer wieder, mich zur Erde zurückzuholen, wenn ich am Abheben war.
Mit 23 Jahren durchlief ich in den Vereinigten Staaten einige Spezialausbildungen und durfte als jüngstes Mitglied sogar in einem Einsatzteam an echten Einsätzen teilnehmen. Meine Schießkünste über große Distanzen begeisterten die Leiter in Fort Benning, Georgia, und ich wurde auch hier weiter gefördert.
Mein Förderer hieß hier General Oldfield, von allen nur „Daddy Langbein“ genannt, weil er gerne und so gut wie Fred Astaire tanzte. Durch ihn erfuhr ich auch die Vorteile der größeren Munitionsarten und fand schließlich meinen Favoriten, eine Barrett M82A1 Kaliber 50.
Mit 25 Jahren kam ich nach Israel zurück und blieb dort für drei Jahre in einem der besten Einsatzteams. Mit 28 Jahren wurde ich zurück in die Vereinigten Staaten nach Fort Benning, Georgia, gerufen. Dort unterrichtete ich die angehenden Scharfschützen an der United States Army Sniper School als damals jüngste Trainerin. Da dies anfangs nur ein Drei-Tages-Job pro Woche war, hatte man mir über die Verwaltung das Angebot gemacht, im Strafvollzug die Ausbildung zum Henker zu durchlaufen, da ich für diesen Job als hart genug eingestuft wurde. Seitdem erledigte ich diese Aufgaben, wenn ich dazu eingeteilt wurde.
Heute Abend hatte ich einen Außentermin. Der Fahrer einer dicken Limousine stand vor meiner Tür und bat mich, im Wagen Platz zu nehmen. Es ging zu einem vor Tagen vereinbarten Termin.
Wir fuhren in das beste Villenviertel und rollten schließlich durch die mit Gitterstäben eingefasste Einfahrt eines alten englischen Herrenhauses. Das riesige Anwesen hatte einen eigenen Park, zu beiden Seiten der Auffahrt standen hohe Birken und alles im Park war perfekt gepflegt. Prächtig erhob sich das Hauptgebäude und der Wagen hielt am Portal. Der englische Baustil der Gründerzeit ließ sich nicht leugnen, dennoch war alles um mich herum topmodern.
In dem altehrwürdigen Haus wurde ich gebeten, im Empfangsbereich Platz zu nehmen und zu warten. An den Wänden hingen mächtige, uralte, gerahmte Ölbilder. Eine schwarz gekleidete Maid wuselte durchs Haus und führte die Straußenfedern gekonnt in alle Ecken und Ritzen im Kampf gegen imaginäre Spinnweben und Staub.
An den Ecken standen einige durchtrainierte, sonnengebräunte Herren mit dunklen Sonnenbrillen und Knöpfen im Ohr. Sie hielten die Arme verschränkt, dabei konnte man deutlich sehen, dass eine Hand in der Jacke ruhte – sicherlich an der Dienstwaffe. Allem Anschein nach war mein Ruf bis hierher vorausgeeilt…
Dann traf mein Gastgeber ein, nein, er erschien.
Ein älterer Herr, ich schätzte ihn auf Ende 60, sportlich gestählt, ungefähr 1,85 Meter groß, aber deutlich verlebt. Die grauen Haaransätze waren dunkel, aber erkennbar gefärbt, er trug einen sehr guten, sündhaft teuren Anzug von Brioni. Der Mann war eindeutig vom Clubleben verwöhnt und sehr reich. Leutselig begrüßte er mich wie eine langjährige Geschäftspartnerin.
„Ah, hallo Miss Miles, schön, dass Sie es einrichten konnten. Nehmen Sie doch bitte Platz.“ Dabei schenkte er sich einen Scotch ein, obwohl es noch nicht einmal Mittag war.
Die Ledermöbel dufteten nach teurem Material und allerbester Pflege.
„Darf ich Ihnen auch einen Drink anbieten?“
„Danke für das Angebot, aber nein. Darf ich den Grund der Einladung erfahren, Mr. …?“
„MacFroody, ich bin John Allister MacFroody III. Ich habe mein ganzes Leben für diesen Staat gearbeitet. Ich habe auch mit diesem Staat gearbeitet und dabei mein Vermögen in Telekommunikation und Dienstleistungen gemacht. Mir gehören drei der wichtigsten IT-Firmen im Land, vier Telefonfirmen in den Staaten und ich habe meine eigenen Satelliten da oben.“ Dabei deutet er in Richtung Decke.
„Sie sehen, ich weiß, wie man zu etwas kommt und wie man sein Geld macht. Ich weiß ganz bestimmt auch, wie man Macht bekommt und sie behält!“ Den letzten Satz schrie er mir fast zu.
„So bin ich bei der Agency gelandet. Heute, nach langen Jahren harter Arbeit, bin ich einer der Vizedirektoren dort. Aber nun zu Ihnen, Miss Miles.“ Er blickte mich streng an.
„Meine beiden einzigen Söhne sitzen im Todestrakt des Staatsgefängnisses ein. Die Hinrichtung soll am kommenden Montag sein. Die beiden Jungs sind gerade mal 30 Jahre alt. Nun, lassen Sie es mich so sagen, Sie können meine beiden Söhne nicht hinrichten, es sind meine einzigen Kinder!“
„Mr. MacFroody, nicht ich habe Ihre beiden Söhne zum Tod verurteilt, sondern der Staat Arizona. Der vorsitzende Richter nannte während der Verhandlung die Taten – ich zitiere wörtlich: <heimtückisch, niederträchtig, hinterhältig und äußerst abscheulich>. Zitat Ende. Der oberste Richter dieses Staates hat auch seinen Kommentar dazu abgegeben und das Urteil nochmals explizit bestätigt. Ich bin lediglich die beauftragte Vollstreckerin. Ich kann aber meinen Vorgesetzten darum bitten, dass ich von der Vollstreckung abgelöst werde.“
„Hören Sie zu, Kindchen, ich will auch nicht, dass irgendjemand anderes Hand an meine Söhne legt.“ Nun beugte er sich zu mir und wurde sehr deutlich.
„Ich bin John Allister MacFroody III – Vizepräsident der CIA. Ich bin es gewohnt, dass man zu mir <Ja, Sir> sagt, und meine Anweisungen schnellstens ausführt. Genau das erwarte ich auch von Ihnen, denn ich stehe hier für die CIA. Gerade Sie sollten wissen, wir verschaffen uns immer das nötige Recht – zur Not mit Gewalt und das auch überall auf der Welt!“
MacFroody stand auf und brüllte mich fast an. „Lassen Sie gefälligst Ihre Hände von meinen beiden Söhnen“, er bebte innerlich. „Das gilt auch für die anderen Henkersleute. War das jetzt deutlich genug für Sie?“
„Mr. MacFroody, ich denke, das war eine deutliche Aussage und ich muss mich jetzt verabschieden. Aber ich stehe nicht über dem Gesetz und ich muss mich an das Recht halten. Ich danke Ihnen für den netten Abend und wenn Sie den Wagen kommen lassen könnten, wäre ich ihnen sehr dankbar, ich nehme aber auch gerne ein Taxi.“
Er gab Anweisungen und zwei Leute verschwanden, dann kam auch schon die Limousine. MacFroody ging mit mir bis zur Tür.
„Sie können meine beiden Kinder nicht bestrafen! Ich kann und werde das nicht zulassen, denken Sie an meine Worte und nun gehen Sie!“, gab er mir noch mit und sah mich vielsagend an. Anschließend brachte mich einer der Wachleute zur Limousine und es ging heimwärts.
***
Ja, so begann es damals. Ich ließ diesen ehrenwerten CIA-Vize-Direktor rasch hinter mir und machte Meldung bei meinem Direktor, einem ergrauten Mann, der kurz vor dem Ruhestand war.
„Miss Miles, ich habe den Vorfall notiert und werde dies an die entsprechenden Stellen weitergeben. Aber MacFroody steht nicht über dem Gesetz, wenn er das auch ab und an übersieht. Sie müssen sich da keine Gedanken machen.“
„Herr Direktor, mir kam dieser MacFroody aber nicht so vor, als ob er sich von ein paar Gesetzen aufhalten ließe.“
„Miss Miles, die Gesetze gelten für alle Bundesbeamten, auch ein MacFroody muss sich an Gesetze halten.“
Mich beruhigte die Einstellung unseres Direktors überhaupt nicht. Er war aus einem anderen Holz geschnitzt und hielt sich immer an die definierten Spielregeln, etwas, das ich bei der CIA jedoch nicht feststellen konnte.
Schon an den folgenden Tagen kam es mir so vor, als tauchten ständig neue Gesichter in schwarzen Anzügen um mich herum auf. Beim Lauftraining blickten mir Leute in schwarzen Autos nach, die offensichtlich in versteckte Mikros sprachen und eindeutig nicht in dieses Viertel gehörten.
Während des Schießtrainings am nächsten Tag auf dem Combat Campus beobachteten uns deutlich mehr Menschen durch Feldstecher, um meine Ergebnisse genau anzusehen.
Tags drauf war ich mit zwei Kollegen beim Kampfsport und auch da verfolgten uns Männer mit Headsets bis zum Eingang. „Hey, Caroline, schau dir mal die beiden Typen da in dem Wagen an. Die gehören doch garantiert zur Agency. Seit wann interessiert sich die CIA für unsere Schießergebnisse?“
„Marlene, keine Ahnung. Aber die sind so unauffällig auffällig, dass die nach CIA stinken. Lasst uns mal sehen, ob wir die besser getarnten auch entdecken.“
Philipp war der Erste, der etwas bemerkte. „Da vor uns: der Eisverkäufer trägt nagelneue Lackschuhe und die Armbanduhr ist sauteuer.“ Marlene fand den Zweiten: „Dort die Oma auf der Parkbank, die auf dem Handy herumtippt. Habt ihr schon einmal eine Oma gesehen, die so schnell ist?“
Wir waren uns einig, dass hier die CIA eine Überwachung durchführte. Wenn der Auslandsgeheimdienst intern einen anderen Dienst überwacht, dann ist immer Vorsicht geboten und wir machten daher bei unserem Direktor Meldung.
Unser betagter Direktor notierte sich alles sorgsam, aber er versuchte wieder, uns zu beruhigen. Schließlich entließ er uns mit seinem Segen.
Dann kam der Hinrichtungstag.
An diesem Tag saßen in der Gästekabine 10 Zuschauer, aber zwei Stühle in der ersten Reihe blieben leer. Als das Urteil vollstreckt war und der Arzt den Tod der beiden jungen Männer feststellte, drang unter großem Lärm John Allister MacFroody ein und machte einen wilden Aufstand, der erst durch mehrere Wachen gestoppt werden konnte.
„Ich habe Sie gewarnt, Miss Miles, lassen Sie die Hände von meinen Söhnen. Jetzt haben Sie es doch gewagt und mir meine Kinder genommen.“ Für einen kurzen Augenblick hatte ich mit MacFroody Blickkontakt und seine Augen schworen Rache! Die Augen funkelten und in MacFroody war etwas zerbrochen, seine beiden Söhne, seine einzigen Erben hingen hier leblos in den Schlingen. „Dafür werde ich Sie zur Rechenschaft ziehen! Verlassen Sie sich drauf, Ihr Leben ist keinen Pfifferling mehr wert!“ MacFroody schrie den letzten Satz und die Sicherheitskräfte mussten ihn mit Gewalt aus dem Raum bringen.
Als ich zu unserem Direktor kam, waren dort zwei weitere Beamte, die sich als „Interne Ermittler“ vorstellten. Unser Direktor saß an seinem Schreibtisch und hatte einen hochroten Kopf.
„Herr Direktor, wir schlagen Ihnen vor, Miss Miles schnellstmöglich über den sicheren Weg außer Landes zu bringen. Dieser MacFroody ist ein Fersenbeißer, dem man nicht trauen kann.“
„Aber meine Herren, das Gesetz besagt doch ganz klar…“ Der ältere der beiden Internen unterbrach unseren Direktor höflich, aber bestimmt. „Sehen Sie, dieser CIA-Mann hält sich nicht an das Gesetz und die globalen Spielregeln. Das ist die Agency, die nehmen das Recht gern in die eigene Hände und das ist gefährlich. Miss Miles muss außer Landes, so schnell wie möglich.“
Als die beiden Herren gegangen waren, bat mich der Direktor, noch kurz zu bleiben. „Miss Miles, Caroline, bitte vergeben Sie mir. Ich habe bis eben nicht geglaubt, dass MacFroody soweit gehen würde. Die Internen haben Recht, Sie müssen weg von hier, in Sicherheit. Bitte verzeihen Sie mir, Caroline.“
Bei unserem Abschied standen die Tränen im Gesicht unseres Direktors.
Am Folgetag brachten mich zwei Sicherheitsleute unseres Institutes heimlich und still zum Flughafen. Sie steckten mich schnell über den VIP-Service in eine bereitstehende Sondermaschine, mein Gepäck und alles würde ich später nachgeschickt bekommen. So verließ ich die Vereinigten Staaten von Amerika, jenes Land, dem ich die letzten Jahre gut und gerne gedient hatte.
Man hatte mich quasi hinausgeworfen, weil ich mich an das Recht hielt und meine Arbeit gut machte. Ab diesem Zeitpunkt waren die USA für mich nicht mehr das Land der unbegrenzten Freiheit, ein Zustand, der sich nicht mehr ändern sollte.
***
Karibik
Mein erstes Ziel waren die Bahamas, dort traf ich auf einen Vertrauten von früher: John Phillips, einen Agenten des Mossad. „Hallo Caro, wie wäre es mit einem kühlen Eistee? Ich freue mich auf ein Gespräch mit der kleinen Lady von früher.“
„John, mein Freund, gerne, da vorne ist frei. Die Leute am Nebentisch sind steinalt und betrachten die Urlaubsbilder der schwulen Söhne. Sie versuchen ihre Enttäuschung über ihre Kinder mit Whisky herunterzuspülen.“
„Unglaublich und ich dachte schon, du hättest alles verlernt, was dir dein alter Lehrmeister beigebracht hat. Aber ich sehe, es ist alles noch da. Ich soll dich übrigens von Dagan grüßen, er wird sich um dein Gepäck kümmern. Deine weitere Route führt dich nach St. Vincent auf die Antillen. Du kennst doch noch Gerome, unser Bastelgenie?“
„Aber klar doch, Gerome, der Dioden-Schreck! Wie ich hörte, hat er jetzt eine kleine Ladenkette.“
„Oh ja, Gerome wollte immer ein Geschäft, jetzt hat er eine kleine Kette und ich habe ihn bereits instruiert, er freut sich auf dich. Ach ja, wir sollten uns beeilen, dein Flieger geht in 45 Minuten.“
Gerome ließ mich am Flughafen abholen, Karah, das Mädchen, das mich abholte, hatte mich sofort erkannt und fiel mir um den Hals. „Caroline, meine Lieblingsschwester, endlich sehen wir uns wieder!“ Schon lagen wir uns in den Armen und küssten uns wie zwei Schwestern, die sich lange nicht gesehen hatten.
„Schön, dich zu sehen, Geschwisterliebe ist hier nicht tabu“, flüsterte sie mir zu und wir verschwanden im bereitstehenden Wagen. „Das ist Margot aus München, sie ist die Niederlassungsleiterin hier und Gerome hat ihr vermutlich alles erzählt, was sie über dich wissen muss.“ Dabei rollte Karah verführerisch mit den Augen und Margot musste laut lachen. „Na, so schlimm war es dann doch nicht, hallo Caroline, schön, dich endlich einmal persönlich kennenzulernen. Gerome hält wirklich sehr viel von dir und ich glaube, er ist immer noch ein bisschen in dich verliebt.“
So gelange ich nach St. Vincent, eine der schönsten, aber auch kleinsten Inseln der Karibik. In der Niederlassung des Elektronikfachhandels übernahm ich mit Michelle die Reparaturwerkstatt.
***
Neuzugänge
Zwei Tage nach Tanjas Gerichtsverhandlung saß ich gegen Abend noch in meinem Büro und ging ein paar Akten durch. Feste Arbeitszeiten hatte ich längst abgelegt und solange ich meinen Job tat, interessierte es Frank auch nicht, wann, wie lange und an wie vielen Tagen der Woche ich arbeitete. Außerdem genoss ich die Stille im Verwaltungsgebäude nach Feierabend.
Heute Vormittag hatte man Tanja in unsere JVA verlegt, was Frank dazu veranlasst hatte, die Dienstpläne umzustellen. Denn einige von Tanjas engen Freunden und Kollegen hatten darum gebeten, nicht bei der Prozedur ihrer Einlieferung dabei sein zu müssen. Zu lebenslanger Haft wegen Mordes aus Heimtücke hatte sie das Gericht verurteilt. Zwar hatte ihr Anwalt Berufung eingelegt, doch die Bestätigung ihres Urteils war eine reine Formsache. Da sich jemand darum kümmern musste, hatte ich mich bereit erklärt, Tanja „zu begleiten“ bzw. mich um alles zu kümmern. Wieder einmal stellte ich fest, dass es bei einer Einweisung unglaublich viel Papierkram zu erledigen gab.
Als die Tür aufging, sah ich auf und Jessika kam mit Tanjas Akte in der Hand zu mir, denn natürlich wollte ich wissen, wie das Urteil begründet wurde.
„Hier, die wurde gerade per Kurier gebracht. Schade, ich habe sie sehr gemocht. Weshalb hat sie sich nicht helfen lassen?!“, schimpfte sie leise, während sie mir die Akte reichte. „Glaub mir, diese Frage habe ich mir mehr als tausend Mal gestellt“, brummte ich und warf einen Blick in die Akte. „Warum hat sie nicht einfach den Mund gehalten?!“, fügte ich im Stillen dazu.
„Am besten verlegen wir Tanja in Haus B, dort hat sie am wenigsten Kontakt zu ihren ehemaligen Kollegen. Die meisten Beamten in Haus B kamen, als Tanja in der Freigänger-Einrichtung gearbeitet hat.“
„Gute Idee, ich werde morgen früh alles in die Wege leiten“, nickte sie und sah zur Couch, die an der gegenüberliegenden Wand stand. Dort lag Vera, meine Lebensgefährtin, die tief und fest schlief. Vera hatte ich hier in der JVA kennen gelernt, als sie eine Stelle bei Dr. Schemmlein bekam, unserem leitenden Arzt der Krankenstation. Den Luxus einer eigenen Krankenabteilung besaßen nur die wenigsten Gefängnisse und diesen hatte Frank gegen alle Widerstände aus dem Ministerium durchgesetzt.
Vera war eine junge Assistenzärztin mit mehreren Zusatzausbildungen. Sie hatte vorher bei der Bundeswehr im medizinischen Dienst gearbeitet und sie war auch an mehreren Auslandseinsätzen beteiligt. Die 28-jährige, rotblonde Schönheit und ich hatten sehr schnell einen Draht zueinandergefunden, so dass das anfänglich dienstliche Verhältnis sich in ein privates änderte. Vera wusste von meinem Job und hatte anders als die meisten ihrer Vorgängerinnen kein Problem damit. Die meisten Beziehungen, die ich im Laufe der letzten Jahre hatte, gingen wegen des Jobs bzw. meiner Wohnsituation in die Brüche. Denn einfach eine Bekanntschaft zu einer Tasse Kaffee mit in die Wohnung nehmen war nicht drin, von meinen Arbeitszeiten ganz zu schweigen. Umso erfreuter war ich, dass Vera mich dennoch liebte und es jetzt schon zwei Jahre mit mir aushielt.
„Hatte sie wieder Zusatzdienst?“, wollte Jessika wissen und wies auf Vera.
„Ja, Schemmlein hatte ein paar Notfälle.“
„Willst du ihr nicht eine Decke besorgen?“
Mein Blick schweifte bei der Suche nach einer Decke ergebnislos durch das Büro. „Hm, du hast nicht zufällig in deinem Büro eine liegen?“
„Nein! Verdammt, deine Wohnung ist nur ein Stockwerk höher und ihr zwei werdet mich aus eurem Leben heraushalten. Ich habe auch so schon genug mit euch zu tun.“ Sie drehte sich um und ging wieder hinaus, doch ich konnte sie schmunzeln sehen, als sie sich umdrehte.
Auch ich lächelte, bis Jessika das Büro verlassen hatte, dann schlug ich die Akte auf und las mir das Urteil durch. „Lebenslange Haft! Warum hast du nicht den Mund gehalten!“, seufzte ich nochmals und warf die Akte resigniert auf den Schreibtisch, als das Telefon klingelte.
„Stein.“
„Du schuldest mir zwei Flaschen erstklassigen Whiskey“, meldete sich Mike am anderen Ende der Leitung.
„Sie haben sie wirklich zu lebenslang verurteilt?“
„Nicht nur das! Trommer hat die Anklage noch erweitert, und zwar auf Mord in zwei Fällen, Mord an ihrem Mann und Mord an ihrer Tochter Ella Fischer. Das heißt, lebenslang mit anschließender Sicherheitsverwahrung und das ohne Berufungsmöglichkeit.“
„Wow, hätte ich nicht gedacht.“
„Tja, sie sicher auch nicht. Fischer ist bei der Verkündung glatt zusammengebrochen.“
„Kann man ihr nicht verdenken.“
„Du hättest die Strass sehen sollen. Tief betroffen von dem harten Urteil beugte sie sich dem Willen des Staatsanwaltes.“
„Sie war sicher am Boden zerstört.“
„So kann man es auch nennen, jedenfalls lade ich dich auf einen schönen, gemütlichen Herrenabend ein und bring den Stoff mit.“
„Geht klar. Wir sehen uns.“
Ich saß noch eine Weile schweigend in meinem Sessel, während mir immer wieder Beate Fischer vor meinem inneren Auge erschien. Sie war mit Sicherheit eine der schönsten Frauen, die ich je gesehen hatte… Eine Überlegung, die Vera sicher nicht gefallen würde. Dennoch, diese smaragdgrünen Augen hatten etwas, das mir im Gedächtnis bleiben würde… und auch der Hass darin, als sie Petra Strass gegenüberstand. Etwas in meinem tiefsten Innersten sagte mir, dass es da mehr geben musste als das, was man oberflächlich wahrnehmen konnte. Ein Blick zur Uhr teilte mir mit, dass es Zeit war, für heute Feierabend zu machen, also fuhr ich den PC herunter, ging zur Couch und weckte Vera sanft auf. „Komm, Schatz, Zeit ins Bett zu gehen“, flüsterte ich ihr ins Ohr und brachte sie eine Etage höher in meine Wohnung.
***
Hoher Besuch
Am nächsten Tag kam ich vom morgendlichen Meeting mit Frank und war auf dem Weg in mein Büro, als ich sah, wie Beate Fischer von zwei Beamtinnen und Vera in die Untersuchungszelle gebracht wurde.
Jetzt trug sie eine Jeans, einen hellen Pullover und ein Paar Sneakers. Anders als im Gericht, wo sie mit erhobenem Haupt durch die Menge schritt, blickten ihre Augen glanzlos geradeaus. Statt Fesseln trug sie nun ihre Kleidung, Decken und ihren persönlichen Besitz, den sie behalten durfte.
Die Wachen drückten sie durch die Tür des Raumes und Vera bildete den Schluss, wobei sie ihre kleine Tasche trug, die ihr Stethoskop enthielt und alles, was sie sonst noch so brauchte, um eine Frau medizinisch zu untersuchen. Sie warf mir ein verliebtes Augenzwinkern zu und schloss die Tür hinter sich. Ich beneidete Beate Fischer für die nächste halbe Stunde nicht, schließlich nahm Vera ihre Arbeit hier sehr ernst. Vera würde sie sehr gründlich untersuchen, denn letztlich war sie für deren Gesundheit verantwortlich.
„Da bist du ja. Ich suche dich schon überall“, hörte ich Jessika, drehte mich um und sah sie auf mich zukommen.
„Was ist denn? Ich habe heute keine Termine.“
„Nein, du hast Besuch.“
„Wen?“
„Oberstaatsanwalt Trommer.“
„Trommer? Was will der denn?“
„Keine Ahnung! Er kam vor einer Viertelstunde und will mit dir reden“, teilte sie mir mit, während sie mit mir zurückging. „Was immer er will, ich denke, es ist nichts Offizielles, also werde ich mich erst einmal unsichtbar machen.“
„Ok, ich hör mir an, was ihn herführt, dann sehen wir weiter“, meinte ich zu ihr. „Hör dich mal um, ob der Knastfunk schon etwas Neues weiß“, bat ich sie, als wir in meinem Büro ankamen, wo Oberstaatsanwalt Trommer wie selbstverständlich auf meinem Stuhl hinter meinem Schreibtisch saß.
„Ich habe noch einiges zu erledigen“, sagte Jessika und warf mir noch einen warnenden Blick zu, bevor sie die Tür hinter sich schloss. Ich ignorierte die Tatsache, dass Trommer auf meiner Seite des Schreibtisches saß, also machte ich es mir deutlich bequem auf meinen Besucherstuhl.
„Guten Tag, Herr Oberstaatsanwalt. Was kann ich für Sie tun?“
„Sie haben heute einen Neuzugang bekommen, Beate Fischer.“
„Hm, ich habe mir die Akten der heutigen Neuzugänge noch nicht angesehen. Aber wenn Sie es sagen, wird es sicher so sein.“
„Lassen wir den Quatsch, Sie waren gestern im Gericht und wissen genau, wen ich meine! Reden wir einmal, ohne auf die Förmlichkeiten zu achten. Sozusagen inoffiziell.“
„Autsch“, dachte ich, „das kann heiter werden.“ Denn die Erfahrung lehrt uns, dass inoffizielle Gespräche nie wirklich inoffiziell sind. Zumindest nicht dann, wenn sie anders verlaufen, als es sich das Gegenüber vorstellt.
„Beate Fischer wurde gestern zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. Ich werde gegen dieses Urteil Revision einlegen, mit dem Ziel, ihr zumindest die Sicherheitsverwahrung und damit großzügigerweise die Zukunftslosigkeit zu ersparen.“
„Warum?“, fragte ich misstrauisch. Trommer war ein Profi und dass das Gericht seinem Antrag gefolgt war, bewies dies einmal mehr. Gegen das von ihm selbst geforderte Urteil Revision einzulegen, war mehr als ungewöhnlich, nein, das stank geradezu. Frank hatte mich darauf hingewiesen, dass Trommer seine Beliebtheit nutzen wollte, um bei der Bevölkerung Punkte zu machen. Das hatte er mit Beates Urteil erreicht, was also lief hier?!
„Ich möchte, dass Beate Fischer bis zur endgültigen Entscheidung des Gerichtes in den gelockerten Vollzug kommt.“
„WAS?“, musste ich nachfragen, denn ich glaubte, mich verhört zu haben.
„Sie haben mich genau verstanden! Bis zur endgültigen Entscheidung gilt auch bei Beate Fischer die Unschuldsvermutung. Durch das öffentliche Interesse an diesem Fall sollte die Justiz zeigen, dass es einen Unterschied zwischen rechtskräftig verurteilt und noch nicht rechtskräftig verurteilt gibt. Das ist übrigens, wie Sie genau wissen, so im Gesetz verankert.“
Das war ganz starker Tobak! Trommer wusste ebenso wie ich, wie der Hase im Knast lief! Beate war wegen Mordes an ihrem Kind verurteilt und hier hinter Gittern spielte es keine Rolle, ob das Urteil endgültig war oder nicht! Die Knasthierarchie bei den Frauen unterschied sich bei Kindesmord in ihrer Gnadenlosigkeit in keiner Weise von jener der Männer! Kindermörder*innen waren die unterste Stufe der Hierarchie und Freiwild! Diejenigen, die im Knast wegen Mord an einem Kind einsaßen, hatten ein sehr „bescheidenes“ Leben. Das lag nicht etwa an uns Beamten, denn Frank hatte klar gemacht, dass er von jedem Einzelnen ein korrektes Verhalten erwartete, nein, es lag an den Mitgefangenen. Für Berufsverbrecher, die wegen Mord, Totschlag oder Raub einsaßen, boten Kindermörder die Chance, entweder in der Hierarchie aufzusteigen oder ihren Rang zu festigen. Das alles wusste Trommer nur allzu genau… Ich stand auf und ging zu meinem Schreibtisch, dort setzte ich mich vor Trommer auf die Kante.
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich das richtig verstanden habe. Ich soll Frau Fischer nicht in den normalen Vollzug verlegen, sondern in den gelockerten Vollzug. Was Freigang, Aufschluss und Teilnahme an Gemeinschaftsveranstaltungen bedeutet.“
„Exakt.“
„Und das, obwohl Ihnen die Konsequenzen sicherlich bekannt sind.“
„Ich sehe, Sie haben mich verstanden, denn so sieht es das Gesetz im Strafvollzug vor.“
„Die Leitung der JVA hat für Verurteilte wie Frau Fischer spezielle Vorgehensweisen und Abläufe erstellt, um deren Sicherheit zu gewährleisten. Ich wusste gar nicht, dass das Ignorieren meiner Vorschriften so in meinen Dienstvorschriften steht.“
„Kommen Sie mir nicht mit so einem Scheiß“, antwortete Trommer scharf, „ich weiß genau, was in den vier Wänden Ihres Knastes geschieht, spielen Sie also nicht den Saubermann. Sie und Frau Dafore biegen sich Weisungen und Verordnungen so zurecht, wie Sie es brauchen, um Brauer Ärger vom Hals zu halten.“
„Da ist schon etwas dran, schließlich lässt sich praktisch jeder Paragraf mit einem anderen Paragrafen widerlegen. Ich will mich ja auch nicht gegen Ihre Weisung sperren, mich interessiert lediglich das Warum.“
„Sagen wir einfach, es handelt sich um einen persönlichen Gefallen.“
Jetzt war ich ernsthaft erstaunt! Trommer nahm den Tod einer verurteilten Frau in Kauf und verpackte es als „persönlichen Gefallen“! Plötzlich sah ich Trommer wieder im Flur des Gerichtes, als er mit Petra Strass Augenkontakt hielt. SIE benutzte Trommer, um sich an Fischer zu rächen! „Sind wir immer noch inoffiziell?“, wollte ich wissen.
„Sicher.“
„Ihnen ist schon klar, dass Frau Strass Sie benutzt, um ihre Rache zu bekommen?“
Trommer lachte nur trocken auf, wobei er mich mitleidig anschaute und in diesem Moment wurde mir alles klar! Nicht Petra Strass benutzte Trommer… nein! Trommer benutzte Beate Fischer. Es war der perfekte Fall, sich zu profilieren und die Leiter nach oben zu steigen. In Beates Fall hatte er sich hart gezeigt, er hatte eine lebenslange Freiheitsstrafe gefordert und bekommen. Gleichzeitig zeigte er sich nachsichtig, indem er der armen Verurteilten ein „für immer weggesperrt sein“ im Nachhinein ersparte. Gab das Gericht seiner Revision statt, wäre er der Mann, der Beate Fischer – der schönen, rothaarigen Frau, wie die Leute sie in Erinnerung behielten – doch noch eine Perspektive gab. Sollte ihr bedauerlicherweise etwas geschehen, würde die Öffentlichkeit ganz sicher nicht Trommer die Schuld geben, sondern Beate selbst. Allerdings wäre auch ich dann im wahrsten Wortsinn „der schwarze Peter“. Wie auch immer, Trommer war fein raus, dass ihm dabei Petra Strass ein paar schöne Stunden bescherte, war lediglich ein angenehmer Nebeneffekt für ihn.
Ich musste meinen Hut vor diesem Mann ziehen, doch gleichzeitig machte es mich vorsichtig. Eine innere Stimme riet mir, dass ich mir diesen Mann nicht zum Feind machen sollte, denn er würde mit Sicherheit eines Tages Minister werden… mindestens.
„An welchen Zeitraum genau haben Sie denn bei Frau Fischer gedacht?“
„Die Dauer wird von dem zuständigen Gericht abhängen, doch wie ich das OLG kenne, wird es eine geraume Zeit dauern.“
Ich fragte mich, was Frank dazu sagen bzw. was er von mir erwarten würde. Dabei kam ich zu dem Schluss, dass er sagen würde: „Schaff den Irren hier raus, aber so, dass es niemand mitbekommt.“ Eigentlich hatte ich momentan nur eine Option… Zeit schinden, und die Zeit bekam ich nur, wenn ich hier und jetzt auf Trommers „persönlichen Gefallen“ einging. „Gut“ antwortete ich schließlich, „aber ich hätte da auch eine Bitte.“
„Ich bin ganz Ohr“, sagte er, während er mich fragend ansah.
„Meine ehemalige Kollegin, Tanja Schiller, sie wurde gestern zu lebenslanger Haft verurteilt. Ihr Mann hat sie über Jahre misshandelt. Ich möchte, dass Sie bei der Berufungsverhandlung einen Blick in ihre Akte werfen.“
„Also gut“, nickte Trommer, „ich werde sehen, was sich machen lässt.“ Er stand auf und streckte mir die Hand entgegen. „Wir sind uns einig?“
„Ja, Herr Oberstaatsanwalt“, entgegnete ich, damit waren wir wohl wieder offiziell und Trommer verließ mein Büro, während ich mich in meinen Sessel sinken ließ. „Das werden interessante Wochen werden“, dachte ich und beschloss, Frank erst einmal nichts zu sagen, denn was Frank nicht wusste…
***
„Und was wollte Trommer?“, fragte Jessika später.
„Er legt gegen sein eigenes Urteil Revision ein und will, dass Beate Fischer bis zur Entscheidung des Gerichtes in den gelockerten Vollzug kommt.“
„Er will was?!“
„Ja, ich war genau so erstaunt.“
„Ihm ist doch sicher klar, dass Beate dort keine zwei Wochen überlebt! Jeder weiß, dass wir eine neue Kindermörderin einsitzen haben und die harten Mädels sind schon ganz aufgeregt! Eigentlich müssten wir sie die erste Zeit in die TE-Abteilung (Terror-Abteilung, ein besonders gesicherter Bereich aus Einzelzellen) verlegen.“
„Ja, das weiß ich, was mir die meisten Sorgen macht ist, dass es Trommer als persönlichen Gefallen verpackt hat.“
„Wieso, aus seiner Sicht ist das genial, geschieht Beate etwas, ist es deine Schuld und nicht seine. Also was tun wir?“
Ich schaute zur Uhr und meinte: „Heute ist Freitag, bis seine Revision bei Gericht eingegangen ist und der Eingang bestätigt wird, dauert mindestens bis Dienstag, erst einmal tun wir gar nichts. Beate bleibt im normalen Vollzug, solange haben wir Zeit, uns etwas zu überlegen und mehr herauszufinden.“
„Ok“ nickte Jessika, „ich fange an zu graben und du besorgst dir die Fischer-akte und schaust sie dir an.“
***
Ein Kurier hatte die Akte am heutigen Montagmorgen gebracht und ich musste feststellen, dass ich lediglich eine verwässerte Abschrift bekam. Die eigentliche Ermittlungsakte wurde mir verwehrt, dennoch gab ich die Hoffnung nicht auf, einen Hinweis zu finden, der Trommers „Gefallen“ erklärte, also studierte ich jeden Eintrag. Immer wieder sah ich Trommer vor dem Gerichtssaal mit Petra Strass Augenkontakt halten. Doch das war einfach zu offensichtlich! Ein Mann wie Trommer würde seinen Aufstieg an die Spitze nicht riskieren, nur um seiner momentanen Flamme ihre persönliche Rache zu geben. Beates Tod würde mächtige Wellen schlagen und natürlich würde man auch Trommers Rolle bei dem Drama durchleuchten. Dennoch riskierte er einen Skandal, es machte mir Sorgen, dass ich nicht hinter Trommers Pläne blicken konnte, als Jessika zu mir kam.
„Ich glaube, ich habe da etwas.“
„Hoffentlich, ich finde hier nämlich nichts und die Zeit arbeitet gegen uns.“
„Trommer hatte am Freitag noch einen Termin hier.“
„Jetzt mach es nicht spannend!“
„Er vernahm eine Insassin, Elvira Torres.“
„Torres?!“ Elvira Tores, 33, hatte zwar einen spanischen Nachnahmen, kam aber aus der tiefsten bayrischen Provinz, saß seit vier Jahren hier wegen Totschlags ein und hatte noch vier Jahre vor sich. Mindestens, denn Torres galt als Pulverfass, das ständig explodieren konnte. In den bisherigen vier Jahren ihrer Haft hatte Torres schon einige Disziplinarmaßnahmen wegen Gewalt gegen Mitgefangene erhalten und darum stand sie in der Knasthierarchie auch im oberen Viertel.
„Die sitzt hier schon vier Jahre, was will er von ihr?“
„Wollen wir wetten, dass Trommer sie gekauft hat, um Beate umzulegen?“
„Sag das laut und wir stehen auf jeder Abschussliste! Aber ja, das würde passen, Torres hätte kein Problem damit, Beate ein Messer in die Rippen zu stecken. Ich verstehe immer noch nicht, warum Trommer das in Kauf nimmt!“
„Ich auch nicht, trotzdem gehe ich die Wette ein und Trommer scheint es eilig zu haben, Beate umbringen zu lassen.“
„Wenn du Recht hast, muss sie eine Waffe haben.“ Da Torres als gewaltbereit galt, hatte Decker ihr den Zugang zu möglichen Waffen komplett verwehrt. Natürlich konnte sie auch mit der Klinge eines Einwegrasierers Schaden anrichten, doch kaum jemanden damit in Sekundenschnelle umbringen, denn mehr Zeit würde sie nicht haben.
Jessika sah auf die Uhr und meinte: „Torres ist noch eine halbe Stunde beim Freigang, durchsuchen wir ihre Zelle.“
„Guter Gedanke“, meinte ich und stand auf. „Soll ich Decker unterrichten?“
„Wenn du Decker einweihst, kannst du auch gleich Frank anrufen.“
Als ich eine Minute immer noch schwieg, stieß sie mich an. „Was geht in deinem Kopf vor?“
„Die ganze Sache stinkt zum Himmel. Ein Staatsanwalt bittet mich um einen Gefallen, der mit Sicherheit dazu führt, dass jemand umkommt! Das Problem dabei ist, dass er mich lediglich bittet, das Gesetz genau zu nehmen. Damit zwingt er mich, zu entscheiden, ob ich dem Gesetz oder den Anweisungen meines direkten Vorgesetzten folge, also Frank.
Ich kann Trommer nicht einmal greifen! Angenommen ich gehe zum Minister, was soll ich dem sagen?“ Mein Blick war ziemlich niedergeschlagen. „Trommer bittet mich, ich soll mich an das Gesetz halten, tun Sie was dagegen!“, schüttelte ich den Kopf. „Entweder ziehen wir hier und jetzt die Reißleine und gehen zu Frank oder…“
„Oder…?“
„Wenn ich zu Frank gehe, wird er dem Spiel schnell ein Ende setzten, doch Trommer wird Wege kennen, seinen Plan umzusetzen. Entweder wird Beate in eine andere JVA verlegt, wo Frank nicht das Kommando hat, oder es dauert eben etwas länger, bis Beate über die Klinge springt.
Ich will aber nicht, dass Beate stirbt! Selbst wenn ich davon ausgehe, dass sie tatsächlich in vollem Umfang schuldig ist. Aber eine Stimme in meinen Kopf sagt mir, dass da etwas faul ist, daher kann ich nicht einfach danebenstehen und zusehen. Wir sind hier nicht in den USA, hier gibt’s keine Todesstrafe und das ist verdammt gut so. Aber wenn ich Beates Tod verhindern will…“
„…dann musst du herausfinden, was Trommer bezweckt“, beendete Jessika meinen Gedanken.
„Ja. Bist du mit dabei?“
„Wir sind jetzt zwanzig Jahre ein Team, natürlich bin ich mit dabei!“
***
Die Entdeckung
Fünf Minuten später durchsuchten wir Torres‘ Zelle und wurden schnell fündig. Zwischen den Hygieneartikeln fand Jessika ein beidseitig geschliffenes Messer! „Warum denken Frauen eigentlich immer, dort würde man nicht suchen?“, fragte sie leise und rief mich zu sich.
„Hm“, brummte ich und sah einen durchsichtigen Plastikbeutel, in dem ein Messer lag, das klein genug war, um beim Tragen nicht aufzufallen, aber dennoch groß genug, um jemanden zu erstechen. Die Tatsache, dass es beidseitig geschliffen war, machte das Messer umso gefährlicher. „Das sieht wie ein normales Besteckmesser aus. Entweder hat Torres das Messer schon länger oder sie ist eine Weltmeisterin im Messerschleifen.“
„Die letzte unangemeldete Zellendurchsuchung in diesem Block war vor sechs Tagen. Deckers Leute hätten das Messer niemals übersehen“, meinte Jessika. „Das Messer ist brandneu, wie ist sie darangekommen?!“ Und als ich nach der Tüte greifen wollte, hielt sie mich zurück. „Sieh mal!“, sie hob eine Ecke eines zusammengelegten Handtuchs an und zeigte auf einen handelsüblichen weisen Einweggummihandschuh. „Weder das Messer noch der Handschuh sind aus der JVA! Damit wird es wohl Zeit, mit Torres ein paar Worte zu wechseln.“
***
Von der ersten Etage aus sahen Jessika und ich zu, wie Johann, einer von Deckers besten Männern, Torres beim Einrücken in den Zellentrakt abfing und sie unter dem Vorwand, sie müsse einen Drogentest machen, in das Untersuchungszimmer des Zellenblocks brachte. „Sieh dir das an!“, schüttelte Jessika den Kopf. „Erinnerst du dich an das Geschrei beim letzten Test?“
„Oh ja!“, antwortete ich und wahrscheinlich würde mir das Gezeter und der Aufstand, die Torres beim letzten unangekündigten Drogentest aufführte, ewig im Gedächtnis bleiben. Drei Beamte waren nötig gewesen, um bei Torres den Bluttest zu nehmen. Es war nicht so, dass Torres Drogen nahm. Tatsächlich wurden bei ihr noch nie Drogen nachgewiesen, aber es gehörte zu Torres‘ Grundeinstellungen zu rebellieren und den anderen Mitgefangenen zu zeigen, wie hart sie ist, aber jetzt ging sie ganz friedlich vor Johann her! Hätten wir das Messer nicht gefunden, wüssten wir spätestens jetzt, dass etwas nicht stimmte!
„Oh, oh“, flüsterte ich und zeigte mit dem Kopf leicht nach links, wo Decker auf der anderen Seite des Flures stand und die Szene ebenfalls mit schmalen Augen beobachtete. Kaum hatte Johann hinter Torres die Tür verschlossen, drehte Decker seinen Kopf und sah uns mit seiner typisch anklagenden Miene an. „Keine Sorge“, meinte Jessika, „ich lasse mir was einfallen.“
***
„Wow“, schnaubte Torres, als wir in das Untersuchungszimmer kamen. „Bad-Man und Wonder-Woman kommen persönlich, um mir Blut abzunehmen! Wo ist denn die Verstärkung, die ihr brauchen werdet?“
„Du kannst dein Blut behalten“, entgegnete ich entspannt, denn ich wusste, dass Provokationen bei Torres dazu gehörten.
„Ich bin wegen des Drogentests hier, soll ich vor euch ins Becherchen pinkeln…“, sie brach ab, als Jessika die Tüte mit dem Messer auf den Tisch warf. Einige Sekunden starrte sie das Messer an, dann sah ich, wie sie wieder Oberwasser bekam. „Das Teil habe ich noch nie gesehen.“
„Dann sei froh, dass wir es gefunden haben, es lag nämlich zwischen deinen Hygienebinden, so etwas kann zu hässlichen Verletzungen führen“, kommentierte Jessika die Lüge trocken.
In diesem Moment begannen meine Alarmglocken zu läuten! Torres war sich zu sicher! Allein die Tatsache, dass wir das Messer in ihrer Zelle gefunden hatten, müsste sie zumindest besorgt machen, was sie natürlich zu überspielen versuchen würde, doch Torres spielte nicht die Unsichere! Torres war sich sicher!
„Im Ernst, ich habe das Ding noch nie in der Hand gehabt.“
„Na klar!“, antwortete Jessika, „und eine Erklärung, wie das Messer in deine Zelle kam, hast du auch sicher.“
„Vielleicht ein Fehler beim Abpacken der Binden? Außerdem, wer sagt, dass das Messer in meiner Zelle war, vielleicht wollt ihr es mir ja auch unterschieben!“
Diesem Wortwechsel folgte ich nur mit einem Ohr, während meine Gedanken rasten. Das Messer stammte nicht aus der JVA, aber Messer hatten wir schon einige in den Zellen gefunden. Doch das Messer aus Torres‘ Zelle war das Erste, das in einem Plastikbeutel lag. Eine einfache Untersuchung würde Torres Fingerabdrücke bestätigen und sie der Lüge überführen, was das Unterschieben der Waffe betraf… und dennoch war sich Torres sicher, sehr sicher. Der Handschuh… plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen! Auf dem Messer waren keine Fingerabdrücke von Torres!
„Wessen Fingerabdrücke sind auf dem Messer?!“, fuhr ich dazwischen.
„Was?!“
„Ich will wissen, wessen Fingerabdrücke ich auf dem Messer finden werde!“
„Keine Ahnung, Mann!“
Jetzt da Jessika die Frage verstanden hatte und meinen Gedankengängen gefolgt war, setzte sie auf einen Bluff: „Die Fingerabdrücke von Oberstaatsanwalt Trommer werden es nicht sein, er hat dir das Messer schon in dem Beutel gegeben, nicht wahr?“
Nun konnte ich ein erstes unsicheres Aufflackern in Torres‘ Augen sehen, das auch Jessika nicht entging. Ja, Torres war ein hartes Mädel, aber eine lausige Pokerspielerin.
„Keine Ahnung, wovon du redest, Wonder-Woman.“
„Oh, ich denke doch“, grinste Jessika und wies zur Wand, wo eine Kamera hinter Panzerglas angebracht war, „sieh mal.“ Natürlich war es verboten, die Gespräche zwischen Mandanten und Anwalt bzw. der Staatsanwaltschaft abzuhören, doch das mussten wir Torres ja nicht auf die Nase binden. „Schon mal daran gedacht, dass Trommer dich gelinkt hat?“ Doch schon als die Frage in der Luft hing, kehrte die Selbstsicherheit zu Torres zurück. „Ich weiß immer noch nicht, wovon ihr da redet.“
„Dann helfe ich dir mal nach!“, meinte ich, denn mittlerweile hatte ich eins und eins zusammengezählt, „Trommer gibt dir das Messer, damit du Beate Fischer abstichst. Eine Kindermörderin abzustechen bereitet Elvira Torres keine Probleme. Was hat dir Trommer im Gegenzug versprochen? Haftverkürzung? Verlegung nach Wunsch? Was immer er versprochen hat, er wird es nicht halten können, denn wenn Beate etwas geschieht, wären alle deine Privilegien zum Teufel. Du würdest in den geschlossenen Vollzug kommen und auf die kommenden vier Jahre noch einige dazu packen.“
Da sich Torres nur mit einem verächtlichen Gesicht zurücklehnte, setzte Jessika zum Angriff an. „Weißt du, es gibt da ein kleines Problem, an dem Trommer nicht vorbeikommt, nämlich uns Beide. Wir können dir das Leben scheißschwer machen.“
„Ihr könnt mir nicht drohen.“
„Ich drohe dir nicht, denn du bist schließlich die harte Torres.“
„Da hast du verdammt Recht.“
„Hast du nicht die Erlaubnis, einmal die Woche mit deiner Tochter zu skypen?“, fragte Jessika und sofort kehrte die bekannte Wut in Torres Gesichtszüge zurück. Aber auch eine Spur Angst, denn dieses Privileg hatte Torres bei all ihrem rebellischen Verhalten nie aufs Spiel gesetzt. „Wem wird Brauer wohl glauben, wenn ich ihm mitteile, wo ich das Messer gefunden habe?“
„Ich warne dich, Wonder-Woman, wenn du es wagst…“
„Klappe, Torres!“, fuhr ich dazwischen. „Entweder sagst du uns, was Trommer dir versprochen hat oder du siehst deine Tochter erst wieder, wenn du hier rauskommst! Und nach dem Messerfund wird das nicht in vier Jahren sein, sondern eher in fünf!“
„Aber… vielleicht müssen wir dir ja auch gar nicht drohen“, schob Jessika nach, „auch wir können Privilegien geben oder garantieren…“ Jessika lehnte sich zurück und ließ die Worte bei Torres wirken, die schließlich einknickte.
„Verlegung in den Freigänger-Knast bei Freising“, flüsterte Torres leise. „Ich könnte die restlichen vier Jahre dort absitzen und meine Tochter zweimal die Woche treffen.“
Hinter Jessikas Stirn rasten die Gedanken ebenso wie in meinem Kopf. Eine solche Verlegung auf Antrag einer Insassin würde von der Staatsanwaltschaft geprüft werden und Trommers Arm wäre sicher lang genug, dass diese dem Antrag zustimmen würde, doch wie sollte das nach einem Mord bzw. einem Mordanschlag gehen? Die Chance, dass Torres in U-Haft käme, wäre um einiges höher… plötzlich packte mich Jessika am Arm und zog mich ein paar Meter weiter in die Ecke des Raumes, wo Torres nicht hören konnte, was sie flüsterte. „Das Messer ist nicht aus der JVA! Jede Wette, es ist aus Fischers Haus! Deswegen die Tüte, deswegen der Handschuh! Auf dem Messer sind die Fingerabdrücke von Beate Fischer und sonst keine!“
„Scheiße!“, fluchte ich, „Das gibt Sinn! Wenn Torres sagt, Beate hätte sie angegriffen und sie hätte sich nur verteidigt, und wenn das Messer untersucht wird, auf dem nur die Abdrücke von Fischer sind, dann würde die Staatsanwaltschaft Torres als Zeugin einstufen und sofort verlegen, damit sie sich nicht mit anderen Zeugen absprechen kann! Verdammt clever!“ Wir drehten beide den Kopf zu Torres, die sichtlich geschrumpft war.
„Wie solltest du es drehen? Beim Aufschluss, von hinten zwischen die Rippen?“, wollte ich wissen.
„Bei der Essensausgabe“, antwortete sie, während ihr eine Träne über das Gesicht lief, die sie sofort wütend abwischte.
Das erklärte den Gummihandschuh, denn aus Hygienegründen mussten die Gefangenen, die das Essen ausgaben, Handschuhe tragen. Ein unübersichtliches Handgemenge anzuzetteln war für Torres ein Leichtes, das hatte sie schon mehrfach bewiesen und im Laufe der ersten chaotischen Sekunden Beate das Messer in den Leib zu rammen, würde sie sicher auch hinbekommen. Bis die Beamten die Lage unter Kontrolle brächten, wäre alles schon geschehen und niemand wüsste, was sich wirklich abgespielt hatte. Selbst wenn eine Mitgefangene den Anschlag mitbekam, würde sie ganz sicher den Mund halten, schließlich war Beate nur eine Kindermörderin! „Sitzenbleiben!“, befahl ich Torres und ging mit Jessika aus dem Raum heraus. „Was tun wir jetzt?“, fragte ich sie im Flur. „Sieh dich um, hier sind eine Menge Torres unterwegs. Wenn sie es nicht macht, tut es eine andere und wir haben absolut nichts, womit wir Trommer festnageln können, außer dem Wort von Torres, das jeder Ermittler oder Richter anzweifeln wird.“
„Dieser Staatsanwalt fängt an, mir gewaltig zu stinken“, nickte Jessika, „aber das ist unser kleinstes Problem! Wenn Trommer sich auf so ein riskantes Spiel einlässt, dann hat er seinen Plan gut durchdacht. Hinter dem Ganzen muss viel mehr stecken als das, was wir jetzt sehen.“
„Egal, wie wir es drehen, ob wir zu Frank gehen oder nicht, Trommer wird zum Zug kommen, wir können es nur verzögern.“
„Dann lassen wir ihn eben zum Zug kommen“, jetzt sah mich Jessika an.
Ich brauchte einige Sekunden, um den Satz zu verstehen, und starrte sie ungläubig an. „Du willst Beate umbringen lassen?“
„Genau das! Aber das muss verdammt gut geplant werden!“
Jetzt, da ich sie verstanden hatte, schaute ich noch ungläubiger. „Dir ist schon klar, dass Frank ausflippen wird.“
„Ja, das ist mir klar, deswegen sag ich ja, es muss gut geplant werden.“
***
*** Ende dieser Leseprobe ***