Die Finanzkrise

Eine Geschichte von Ted, einem werten guten Freund.

Tokio, Oktober 2008
Mit dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers erreichte die globale Finanzkrise einen neuen Höhepunkt. Infolge des Crashs gerieten weltweit Banken und Fonds in teils dramatische Schieflagen. Dabei muss man fein unterscheiden in Schwierigkeiten, die trotz einer seriösen Geschäftspolitik aufkamen und solchen, bei denen von vornherein unverantwortliche Risiken bewusst eingegangen wurden und nun schonungslos zu Tage traten. Die Schwierigkeiten des japanischen Immobilienfinanzierers CDC in Tokio waren letzterer Natur. Durch riskante Derivat- und Optionsgeschäfte hatte sich CDC finanzielle Probleme eingefangen, nur wusste bei CDC noch niemand davon. Eine Ausnahme bildete das im Hotelzimmer 404 des Blue Horizon versammelte Quartett junger, erfolgreicher, schöner und erfolgsverwöhnter Banker.
Haruto, 29, Leiter des Teams „Derivates and Options – USA“, stand am Fenster, das einen atemberaubenden Blick auf die City gewährte. Riku, 25, sein Assistant Director, lümmelte sich breibeinig auf einem Zweisitzer-Designmöbel und schwenkte nachdenklich ein Glas in seiner Hand, in dem eine goldbraune Flüssigkeit schwamm. An der dem Fenster gegenüberliegenden Wand stand Kaito, ebenfalls 25, und einer der begabtesten Analysten bei CDC. Die einzige Frau im Raum war Ayumi, 24, eine Expertin im Bereich der Risikoeinschätzung. Die Männer, übermüdet, unrasiert und mit aufgeknöpftem Hemd und gelockerter Krawatte, wirkten resigniert. Ayumi hingegen war aufgebracht und redete auf die Männer ein. Wenn man sich die Mühe gemacht hätte, diesen Redeschwall zu analysieren, hätte man ihn auf die zwei Begriffe Schuld und Schmerz reduzieren können. Schuldvorwürfe gegen die Männer und gegen sich selbst, Schmerz über das Bevorstehende. „Übermorgen wird die Interne Revision die Katastrophe aufdecken, dann sind wir dran. Ich habe euch immer gewarnt, solche Risiken einzugehen. Aber ihr konntet es nicht lassen. Wir sind am Ende. Ich hasse euch dafür.“ Sie begann zu schluchzen. Riku antwortete müde: „Erzähl uns mal was Neues. Wir wissen es langsam.“ Haruto mit der Stirn an der Scheibe: „So lange es gut ging, haben wir alle davon profitiert. Auch du, Ayumi. Denkt an die Boni und den Luxus. Wir hatten ein super Leben. Irgendwann zahlt man den Preis.“ Kaito: „Lass die Sprüche. Es ist vorbei.“
Eine Pause trat ein. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Haruto drehte sich vom Fenster weg zu seinen Kollegen. „Seid ihr bereit?“, fragte er. Kaito und Riku nickten nur, Ayumi bejahte flüsternd. Sie kramte in ihrer schwarzen Designerhandtasche, perfekt zu ihrem schwarzen Designeroutfit passend, und holte einen dünnen Lederriemen hervor, der früher mal eine Hundeleine gewesen sein mochte. Sie strich sich eine Strähne ihres schwarzen Haares aus der Stirn, welches sie im Übrigen hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Sie war dezent geschminkt, schlank und sehr schön. „Dann los“ befahl Haruto, „erfüllen wir die Pflicht der Samurai. Lieber ein Tod in Ehre durch die eigene Hand als ein Leben in Schande.“ Ayumi und Riku erhoben sich und gingen aus der Hotelsuite, Kaito stieß sich von der Wand ab und folgte ihnen. Haruto schloss hinter ihnen die Tür. Er seufzte und setzte sich auf das Sofa. 14.00 Uhr Tokioter Zeit. Ein Stunde wollte er ihnen geben. Er goss sich einen Whisky ein und wartete.
Nach einer Stunde klopfte Haruto leise an Rikus Hotelzimmertür. Dieser öffnete schnell. Wahrscheinlich hatte er an der Tür gewartet. Beide gingen zu Kaitos Zimmer. Auch dieser war sofort da und schloss sich ihnen an. Gemeinsam gingen sie, vorsichtig jeden möglichen Kontakt zu anderen Hotelgästen vermeidend, zu Ayumis Zimmer. Haruto klopfte, kein Laut. Er klopfte erneut, wieder nichts. Kaito öffnete nun mit einer Karte das Hotelzimmer. Der Wohnbereich war leer. Nur die Handtasche lag auf dem Sofa. Haruto ging voraus ins Schlafzimmer. „Ayumi?“ flüsterte er. Keine Antwort. Er trat ein. Das erste was er sah, war der rechte Fuß Ayumis, der hinter einer geöffneten Schranktür hervorschaute. Die Drei traten näher. Ayumis gebrochene Augen, mit roten Unterblutungen, blickten auf die Innenseite des Einbauschrankes. Sie hatte sich an der Stange des Kleiderschrankes erhängt. Da die Stange nicht hoch genug war und die Schlinge sich so nicht zuziehen konnte, hatte sie sich hingekniet. Ihre Knie schwebten etwa 10 cm über dem Boden. Lediglich die Beine berührten den Teppich. Das Bein, das sie zuerst gesehen hatten, war nach hinten ausgestreckt. Sie hatte sich beim Erhängen offensichtlich nicht das Genick gebrochen, sondern war durch den Lederriemen stranguliert worden. Der Todeskampf musste heftig gewesen sein. Davon zeugten die dunklen Striche auf dem Teppich, die durch das Scharren und Strecken der Beine hervorgerufen worden waren, der abgebrochene Absatz einer ihrer Pumps, die zerrissene Strumpfhose, die Kratzspuren am Hals und die Hautreste unter ihren Fingernägeln. Die Arme hingen seitlich an ihrem Körper herab, die Hände verkrampft und nach innen gebogen. Der einfache Knoten des Lederriemens lag hinter ihrem rechten Ohr. Der Riemen hatte sich tief in ihren Hals eingegraben. Ein zweiter roter Streifen um ihren Hals zeigte, dass sie einen zweiten Versuch gebraucht hatte, um sich erhängen zu können. Die Zunge in ihrem verfärbten Gesicht hatte sich zwischen ihre Zähne geschoben. Speichel hing daran. Seltsamerweise war kein Urinabgang zu sehen. Später, nach der Autopsie, stellte sich heraus, dass sich Ayumi durch Fasten und verminderte Flüssigkeitszufuhr auf ihren Selbstmord vorbereitet hatte. Sie hatte sich nicht beschmutzen wollen, und dies auch geschafft.
Haruto lachte auf. „Unsere Ayumi, gehorsam und so genau. Immer so ernsthaft.“ Riku und Kaito lachten ebenfalls und verließen das Zimmer, sorgsam bemüht, keine Spuren zu hinterlassen.
Zwei Tage nach Ayumis Selbstmord endeckte die Innere Revision den Schaden für CDC in Höhe von mehreren hundert Millionen Yen. Die Spur der kritischen Transaktionen führte zu Ayumi. Haruto, Riku und Kaito konnte man keine Fehler nachweisen. Zwar verlor Haruto die Teamleitung, jedoch behielt er seinen Job bei CDC. Ayumis Tod von eigener Hand wurde als Schuldeingeständnis gewertet. Immerhin wurde er mit Respekt aufgenommen – die Tradition der Samurai.

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